Bildung für nachhaltige Entwicklung als politischer Lernprozess

Der Beitrag geht der Frage nach, inwiefern das Bildungskonzept Bildung für nachhaltige Entwicklung als politischer Lernprozess gedacht und gestaltet werden kann. Unter Bezugnahme auf das aktuelle Programm #BNE2030 wird dafür plädiert den Nachhaltigkeitsdiskurs zu (re)politisieren und die strukturelle Analyse von Konflikten im BNE-Kontext mehr zu berücksichtigen. Das Ziel einer Politisierung von BNE ist eine verstärkte Sichtbarmachung der weltgesellschaftlichen Ungleichheits- und Machtverhältnisse.

Bildung wird seit der Rio-Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung 1992 als zentrale Bedingung für die globale Realisierung einer nachhaltigeren Entwicklung adressiert. Eng damit verbunden ist das von der UN hervorgebrachte Bildungskonzept Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE). So wurde BNE auch fest in den 2015 verabschiedeten 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung, kurz SDGs, der Agenda 2030 verankert. Die 17 Nachhaltigkeitsziele stellen hierbei den Rahmen für die Verwirklichung einer hier beschriebenen Großen Transformation und fungieren damit auch für BNE als zentrale politische Orientierung für die Bearbeitung globaler Herausforderungen. Die Relevanz von BNE für das Erreichen der Nachhaltigkeitsziele wird im aktuellen UNESCO-Programm #ESD2030 noch zentraler herausgestellt, indem ihr eine transformative „Schlüsselrolle“ für die erfolgreiche Umsetzung zugeschrieben wird (UNESCO 2020: 68). Anerkannt wird hierbei auch, dass die Nachhaltigkeitsziele teilweise im Widerspruch zueinander­stehen, weshalb Fragen zu den Verflech­tungen und Zielkonflikten zwischen ver­schiedenen SDGs in der BNE aufgegriffen werden sollen (UNESCO 2020: 16). Somit wird auch in den bildungspolitischen Rahmenprogrammen deutlicher, dass die SDGs nicht nur als Ziel, sondern gleichzeitig auch als Problemhorizont des ihnen eingeschrieben Verständnisses einer (nicht-)nachhaltigen Entwicklung gelesen werden können (Kehren/Winkler 2019: 373).

Wird BNE als politisch-emanzipatorisches Bildungskonzept verstanden, ist es notwendig, die Dialektik einer nachhaltigen Entwicklung zwischen Systemerhalt und Systemtransformation aufzugreifen, die auch Bildung selbst betrifft (Kehren 2016). Bildungsanforderungen von BNE und dem damit verbundenen Verständnis einer nachhaltigen Entwicklung, gilt es dabei stetig zu hinterfragen und neu auszuhandeln. Durch die kritische Reflexion der inhärenten Widersprüche und der Auseinandersetzung mit den Zielkonflikten der Nachhaltigkeitsthematik kann eine nachhaltigere Zukunft somit selbst zu einem Lernprozess werden (Rieckmann 2021).

Aufgrund ihrer Abhängigkeit von gesellschaftlichen Bedingungen kann durch Bildung allein jedoch keine neue politische Realität geschaffen werden (Mannheim 1928). Folglich darf auch weder Lehrenden noch Lernenden durch BNE die politische Verantwortung für (nicht-)nachhaltige Entwicklung und globale (Un-)Gerechtigkeit übertragen werden (Eis 2022: 200).

Erste Studien zeigen, dass diese Erwar­tungen in der Bildungspraxis zu Überforderung führen und folglich im Auf­zeigen von (individuellen) Alltagspraktiken (bspw. nachhaltigem Konsum) münden, ohne nachhaltigkeitsbezogene Probleme und Konflikte strukturell zu analysieren (Weselek/Wohnig 2021). So wird die in #BNE2030 nach wie vor verankerte Annahme verbreitet, dass „grundlegende Veränderungen für eine nachhaltige Zukunft bei den Individuen und ihren Verhaltens-, Einstellungs- und Lebens­stiländerungen [beginnen], während kon­textuelle Faktoren und institutionelle Unter­stützung ein förderliches Umfeld schaffen und so individuelle Beiträge unterstützen können“ (UNESCO 2020: 6). Diese gilt es aus Sicht einer kritisch-emanzipatorischen Bildung jedoch zurückzuweisen. Das Ausblenden von strukturellen Wider­sprüchen und systemischen Zusammen­hängen beschreibt Yvonne Kehren als „positiv appellativ“ (2016: 197). Globale Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten können dadurch verdeckt oder sogar stabilisiert werden (Kehren 2016: 132). Die Befähigung zur Mündigkeit der Lernenden benötigt dagegen offene Bildungsprozesse, damit unabhängiges Denken für die Lernenden möglich und erfahrbar wird und Haltungen oder Sichtweisen nicht nur affirmativ übernommen werden (Gessner 2021: 75). Für Theodor W. Adorno ist die Möglichkeit des Mündig-werdens sowohl von einem angemessenen Maß an Anpassung abhängig, das aber über die Affirmation der gesellschaftlichen Ver­hältnisse hinausgeht als auch von der Wahrnehmung und Reflexion des Span­nungsverhältnisses zwischen Anpassung und Widerstand an bzw. gegen die bestehenden gesellschaftlichen Bedingun­gen (Adorno 1971: 109).

Dieser kritische Impetus wird im Diskurs um eine emanzipatorische BNE zuneh­mend aufgegriffen, wodurch auch eine stärkere konzeptionelle Verankerung von politischer Bildung in BNE gefordert wird. Versteht man BNE als politischen Lernprozess, geht es im Kern darum, den Nachhaltigkeitsdiskurs zu (re)politisieren, indem eine strukturelle Analyse von Konflikten in den Vordergrund gerückt wird (Wohnig 2021: 39). Hierbei gilt es einen Raum für eine Ursachenanalyse nicht-nachhaltiger Verhältnisse und gesell­schaftlicher Strukturen, Handlungsoptionen sowie Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu öffnen (Lösch/Eis 2018). So entsteht für BNE die Möglichkeit, dass die oft schwer zu fassenden Zusammenhänge gesell­schaftlicher Tiefenstrukturen versteh- und bearbeitbar werden (Domnick et al. 2022: 177f.). In diesem Sinne plädieren wir auch für eine stärkere Förderung von einer kritischen und partizipativen – und damit einer politischen BNE, die „zur Bearbeitung heutiger Krisen befähigt und gleichzeitig ein Teil dieser Bearbeitung ist“ (Domnick et al. 2021: 181). Eine BNE, welche

(I) die aktuellen (welt-)gesellschaftlichen Verhältnisse sowie die eigene Eingebundenheit darin, unter Berück­sichtigung der herrschenden globalen Ungleichheits-, Macht- und Herrschafts­verhältnisse nicht nur aufzeigt, hinterfragt und problematisiert, sondern (II) auch politische Partizipation auf individueller, wie auch auf kollektiver Ebene in Zeiten multipler Krisen und gesellschaftlicher Umbrüche ermöglicht und (III) auf einer transformativen Ebene ein Handeln in die Gesellschaft hinein und ein Nachdenken über Alternativen und Utopien anregt (Lingenfelder 2020).

 

Literatur

Adorno, Theodor W. (1971) [1966]: Erziehung wozu? In: Adorno, Theodor W.: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959-1969. Herausgeben von Gerd Kadelbach. Frankfurt: Suhrkamp Taschenbuch. S. 105-119

Domnick, Johannes/ Berwanger, Lennart/ Müller, Fabian (2022): Mit emanzi-patorisch-politischer Bildung sozial-ökologische Transformation gestalten. In: Standortbestimmung politische Bildung: Gesellschaftspolitische Herausforderungen, Zivilge­sellschaft und das vermeintliche Neutralitätsgebot. Frankfurt/M.: Wochen-schau Verlag. S.176-187

Eis, Andreas (2022): Politische Bildung: fachliche und fachdidaktische Perspektiven auf BNE und Globales Lernen. In: Hemkes, B./ Rodolf, K./ Zurstrassen B. (Hrsg.) Nachhaltigkeit in der Berufsbildung. Politische Bildung als Gestaltungsaufgabe. Frankfurt/M: Wochenschau Verlag, S. 195 -201

Gessner, Susann (2021): Bildungs-potenziale politischer Bildung im Kontext gesellschaftlicher Erwartungen. In: Deichmann, Carl/ Partetzke, Marc (Hrsg.): Demokratie im Stresstest: Redaktionen von Politikdidaktik und politischer Bildung. Wiesbaden: Springer VS. S. 71-85

Hamborg, Steffen (2017): „Wo Licht ist, ist auch Schatten“ – Kritische Perspektiven auf Bildung für nachhaltige Entwicklung und die BNE-Forschung im deutsch-sprachigen Raum. In: Brodowski, Michael (Hrsg.): Bildung für Nachhaltige Ent­wicklung. Interdisziplinäre Perspektiven. Berlin: Logos Verlag. S. 15-31

Mannheim, Karl (1928): Das Problem der Generationen. In: Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie 7 (1928/29), S. 157-184

Kehren, Yvonne (2016): Bildung für nachhaltige Entwicklung. Zur Kritik eines pädagogischen Programms. Baltmanns-weiler: Schneider Verlag Hohengehren

Kehren, Yvonne/ Winkler, Christine (2019): Nachhaltigkeit als Bildungsprozess und Bildungsauftrag. In: Leal Filho, W. (Hrsg.): Aktuelle Ansätze zur Umsetzung der UN-Nachhaltigkeitsziele. Springer, Wiesbaden. S. 373-391

Lingenfelder, Julia (2020): Was bedeutet Transformative Bildung im Kontext sozial-ökologischer Krisen? In: Außerschulische Bildung 51(1). S. 52-56

Lösch, Bettina/ Eis, Andreas (2018): Kritische Gesellschaftsanalysen und globale politische Bildung. In: Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften, 43-60

Rieckmann, Marco (2021): Bildung für nachhaltige Entwicklung. Ziele, didaktische Prinzipien und Methoden. In: merz – Zeitschrift für Medienpädagogik 65 (04), S. 10-17

UN (2015): Transforming our world. The 2030 agenda for sustainable development. www.un.org/ga/search/view_doc.asp?symbol=A/RES/70/1&Lang=E (zugegriffen am 15.07.2020)

UNESCO (2020): Education for sustainable development. A roadmap. https://unesdoc.unesco.org/ark:/48223/pf0000374802.locale=en (zugegriffen am 24.04.2021)

Weselek, Johanna/ Wohnig, Alexander (2021): Befähigung zu gesellschaftlicher und politischer Verantwortungsübernahme als Teil Globalen Lernens – was heißt hier Neutralität? In: ZEP: Zeitschrift für internationale Bildungsforschung und Entwicklungspädagogik 44. S. 4-10

Wohnig, Alexander (2021): Politische Partizipation und Politisierung als Aufgaben politischer Bildung. In: Steiner-Hämmerle K (Hrsg.): Glaube – Klima – Hoffnung. Religion und Klimawandel als Herausforderungen für die politische Bildung. Frankfurt/M., S. 24-44

 

Autorinnen und Kontakt:

Hanna Butterer, wissenschaftliche Mit­arbeiterin an der Universität Siegen am Arbeitsbereich Didaktik der Sozialwissen­schaften und promoviert dort zur Verhält­nisbestimmung von BNE und politischer Bildung

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Dr. Johanna Weselek, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Pädagogischen Hoch­schule Heidelberg, am dortigen Heidel­berger Zentrum Bildung für nachhaltige Entwicklung.

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