Muss BNE/politische Bildung neutral sein? Diese Meinung wird von vielen Bildungsakteur*innen immer wieder als Grundsatz formuliert. Ist das zielführend? Und warum es „neutral“ in diesem Kontext ohnehin nicht gibt!
Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) hat das Kernziel, Menschen bei der Entwicklung notwendiger Kompetenzen zur Gestaltung ihres Lebens zu unterstützen und mit dem notwendigen Wissen zu versehen. Ein wesentliches Element ist dabei, sie zu befähigen eigene und bewusste Entscheidungen zu treffen, wie sie ihr Leben nachhaltig, klima- und naturgerecht gestalten können. Das zentrale Dokument der Kultusminister-konferenz für den Bildungsbereich BNE formuliert hierzu:
„Handlungsfähigkeit im globalen Wandel
Die gesellschaftliche Handlungsfähigkeit im globalen Wandel vor allem im persönlichen und beruflichen Bereich durch Offenheit und Innovationsbereitschaft sowie durch eine angemessene Reduktion von Kom-plexität sichern und die Ungewissheit offener Situationen ertragen.
Partizipation und Mitgestaltung
Schülerinnen und Schüler sind auf Grund ihrer mündigen Entscheidung bereit, Ziele der nachhaltigen Entwicklung im privaten, schulischen und beruflichen Bereich zu verfolgen und sich an ihrer Umsetzung auf gesellschaftlicher und politischer Ebene zu beteiligen“. (Orientierungsrahmen für den Lernbereich Globale Entwicklung, KMK 2016).
Diese Ziele und Kompetenzen sind aber nicht nur für den schulischen Bereich relevant, sondern sind umfassende Ziele jeder BNE! Das gleiche gilt auch für den Beutelsbacher Konsens, der zwar für den schulischen Bereich formuliert wurde, aber inzwischen als Grundsatz für BNE und politische Bildung gesehen wird. (vgl. z. B. die Webseite der Bundeszentrale für politische Bildung.)
Sehr häufig wird in der Diskussion über den politischen Charakter der BNE auf den Beutelsbacher Konsens verwiesen, der ein Neutralitätsgebot enthalte und daher einer politisch klaren Zielrichtung der Arbeit in Richtung einer nachhaltigen Entwicklung im Wege stehe. Dies ist schon im Kontext der Entstehungsgeschichte des Beutelsbacher Konsens falsch und eine unzulässige Interpretation. Er stand am Ende der Auseinandersetzung über die Neu-orientierung der formalen politischen Bildung im Rahmen der gesellschaftlichen Diskussion als Folge der „68er Proteste“ und der kritischen Reflexion der fünfziger und sechziger Jahre sowie der Aufarbeitung der Nazizeit. Als Ergebnis wurden 1976 drei Grundsätze für den Lehrbereich formuliert: (Originalwortlaut)
I. „Überwältigungsverbot. Es ist nicht erlaubt, den Schüler - mit welchen Mitteln auch immer - im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der "Gewinnung eines selbständigen Urteils" zu hindern. Hier genau verläuft nämlich die Grenze zwischen Politischer Bildung und Indoktrination. Indoktrination aber ist unvereinbar mit der Rolle des Lehrers in einer demokratischen Gesellschaft und der - rundum akzeptierten - Zielvorstellung von der Mündigkeit des Schülers.
II. Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen. Diese Forderung ist mit der vorgenannten aufs engste verknüpft, denn wenn unterschiedliche Standpunkte unter den Tisch fallen, Optionen unterschlagen werden, Alternativen unerörtert bleiben, ist der Weg zur Indoktrination beschritten. Zu fragen ist, ob der Lehrer nicht sogar eine Korrekturfunktion haben sollte, d. h. ob er nicht solche Standpunkte und Alternativen besonders herausarbeiten muss, die den Schülern (und anderen Teilnehmern politischer Bildungsveranstaltungen) von ihrer jeweiligen politischen und sozialen Herkunft her fremd sind. Bei der Konstatierung dieses zweiten Grundprinzips wird deutlich, warum der persönliche Standpunkt des Lehrers, seine wissenschaftstheoretische Herkunft und seine politische Meinung verhältnismäßig uninteressant werden. Um ein bereits genanntes Beispiel erneut aufzugreifen: Sein Demokratieverständnis stellt kein Problem dar, denn auch dem entgegenstehende, andere Ansichten kommen ja zum Zuge.
III. Der Schüler muss in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und seine eigene Interessenlage zu analysieren, sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne seiner Interessen zu beeinflussen. Eine solche Zielsetzung schließt in sehr starkem Maße die Betonung operationaler Fähigkeiten ein, was eine logische Konsequenz aus den beiden vorgenannten Prinzipien ist.“ 1)
Folgt man dieser Argumentation, geht es auch – angesichts von Fakenews und falsch verstandener Ausgewogenheit – um eine klare Bewertung und Einordnung der Informationen und Meinungen. Schaut man sich zum Beispiel die aktuelle Berichterstattung über den Klimawandel und seine Folgen an, fällt auf, dass die journalistische Berichterstattung und Sozial Media mitunter den Eindruck erwecken, dass es nebeneinander unterschiedliche Interpretationen gibt: Da wird im Sinne einer sogenannten Ausgewogenheit die Position des IPCC als anerkanntes Fachgremium gleichgewichtet dargestellt mit den zum Teil abstrusen Theorien der Klimaleugner*innen. Schaut man genauer hin, ergibt sich aber ein anderes Bild: Alle forschenden Klimaexpert*innen sind sich in der Einschätzung der Hintergründe und der Auswirkungen des Klimawandels einig, geringe Interpretationsunterschiede einge-schlossen. Daneben gibt es eine kleine Minderheit von selbsternannten Expert-*innen, denen gemeinsam ist, dass sie alle nicht zu Klimafragen forschen, die das Ganze in Frage stellen. Die Lehrenden müssen dies hinterfragen und eine Orientierung auch in der Interpretation und Bewertung solcher Informationen und grundsätzlicher Fragen im Kontext von Menschenwürde, Gleichberechtigung und demokratiefeindlichen Äußerungen geben und sie dürfen selbst Stellung beziehen. Vor allem ist hierbei Transparenz gefragt!
Autor und Kontakt:
Reiner Mathar Bildung für nachhaltige Entwicklung Beratung – Konzeptentwicklung –Fortbildung, ANU Hessen e.V. reiner.mathart-onlinede
1) Quelle: Hans-Georg Wehling (1977): Konsens à la Beutelsbach? Nachlese zu einem Expertengespräch. In: Siegfried Schiele / Herbert Schneider (Hrsg.): Das Konsensproblem in der politischen Bildung. Stuttgart, S. 173 - 184, hier S. 179f.