Viel mehr praktische und sinnstiftende Erfahrungen wünschen sich Jugendliche für ihre Berufswahl. Es muss nicht immer das mehrwöchige Praktikum sein, auch ein kurzer Austausch mit Berufstätigen kann berufliche Perspektiven erweitern.
Der Wissenschaftsladen Bonn hat in den letzten Jahren verschiedene Dialogformate für Bildungseinrichtungen entwickelt, die Jugendlichen Berufswege in die nachhaltige Arbeitswelt aufzeigen möchten. Anhand der Formate lassen sich zwei- bis dreistündige Veranstaltungen mit nachhaltigen Unternehmen organisieren.
Viele Jugendliche wünschen sich einen sinnstiftenden Beruf, mit dem sie einen gesellschaftlichen Beitrag leisten können.1) Sie wissen aber nicht, wie sie dahinkommen und haben meist auch keine Vorstellung davon, was es heißt, nachhaltig im Beruf zu handeln. In den Veranstaltungen finden sie im kritischen Dialog mit den Beschäftigten Antworten auf diese Fragen. Sie erhalten einen authentischen Einblick in nachhaltige Tätigkeitsfelder, sammeln neue Inspirationen und schärfen ihre beruflichen Ziele. Den Beschäftigten wiederum bietet ein solcher Austausch die Gelegenheit, von ihrem Beruf und ihrem beruflichen Werdegang zu erzählen und ihr Unternehmen als attraktiven Arbeitsgeber vorzustellen. Beide Seiten profitieren.
Partizipation als Schlüsselelement
Das Besondere an den Dialogformaten ist ihre Beteiligungsorientierung durch verschiedene partizipative Elemente. Beim Format „Future Activity“ beispielsweise werden die Jugendlichen bei einem Unternehmensbesuch direkt in unternehmerische Gestaltungsprozesse einbezogen. Sie entwickeln eigene Vorschläge zum Umgang mit nachhaltigkeitsbezogenen Herausforderungen, die im Unternehmen aktuell diskutiert werden und auf die gemeinsam mit der Belegschaft eine Antwort gesucht wird. Dabei kann es z.B. um die Frage gehen, wie biobasierte Kosmetika beworben werden könnten, ohne Schönheitsideale zu reproduzieren. Oder wie sich das beteiligte Unternehmen im Spannungsfeld spezifischer Zielkonflikte positionieren sollte. Auch wäre es denkbar, dass die Jugendlichen sich damit auseinandersetzen, wie das Unternehmen seine ökologische Ausrichtung strategisch für die Gewinnung junger Fachkräfte nutzen könnte. Welche Herausforderungen thematisiert werden, wird im Vorfeld mit dem Unternehmen abgesprochen.
Beim Format „Future Talk“ sind es die Jugendlichen selbst, die an ihrer Schule eine Diskussionsrunde mit Unternehmen organisieren, die sich für eine nachhaltige Zukunft stark machen. Dafür recherchieren sie im Internet nach entsprechenden Unternehmen vor Ort und verschicken Einladungen. Auch die Fragen für den Future Talk entwickeln die Jugendlichen anhand eines vorgegebenen Rasters in Eigenregie.
Zielkonflikte als Türöffner
Zielkonflikte und Herausforderungen, mit denen sich die beteiligten Unternehmen bei der Umsetzung ihrer Nachhaltigkeitsziele konfrontiert sehen, dienen in beiden Formaten als Türöffner für die Diskussion und die Exploration von Gestaltungsspielräumen für nachhaltiges Handeln im Beruf. In der gemeinsamen Diskussion über Zielkonflikte entsteht ein lebendiger, von den Interessen der Jugendlichen geleiteter Austausch auf Augenhöhe, der Raum für kritische Nachfragen sowohl zur gesellschaftlichen Rolle des Unternehmens als auch zu persönlichen Berufswegentscheidungen der anwesenden Fachkräfte gibt – beispielsweise warum sie für ein nachhaltiges Unternehmen arbeiten, wie sie zu ihrem Job gekommen sind, welchen persönlichen Einfluss sie auf die nachhaltige Ausrichtung ihres Unternehmens haben, wo sie dabei an Grenzen gestoßen sind usw.
Welche Zielkonflikte thematisiert werden, hängt vom Handlungsfeld der beteiligten Unternehmen ab. Bei Unternehmen aus dem Bereich ökologische Landwirtschaft und Nahrungsmittelproduktion könnte beispielsweise die Akzeptanz „grüner“ Gentechnik angesprochen werden oder Flächennutzungskonflikte im Kontext von Ernährungssicherheit und Agrarflächenmangel. Auch globale Zielkonflikte entlang der Wertschöpfungskette mit ihren sozialen Implikationen für die Angestellten wären ein mögliches Thema.
Nachhaltigkeitskompetenzen
In der Auseinandersetzung mit Zielkonflikten während der Diskussionsrunde bzw. der gemeinsamen Suche nach Lösungsvorschlägen für nachhaltigkeitsbezogene Herausforderungen im Unternehmen üben die Jugendlichen neben kooperativem Handeln vor allem kritisches Denken und Problemlösung, Kompetenzen die von der UNESCO als Schlüsselkompetenzen für Nachhaltigkeit definiert werden. 2) So hinterfragen die Jugendlichen im Format „Future Talk“ bereits während der Vorstellungsrunde die Ausführungen ihrer Gäste zum Nachhaltigkeitsengagement ihrer Unternehmen, lassen sich Schwierigkeiten schildern, decken Dilemmata und mitunter auch Ungereimtheiten auf. In der anschließenden Diskussionsrunde kommen Nachhaltigkeitskonflikte und Kompromisse im Berufsleben, berufsbiografische Entscheidungen und unschöne Situationen im Berufsalltag auf den Tisch. Indem Wertvorstellungen, berufliches Verhalten und politische Positionen hinterfragt und bewertet werden, erweitern die Jugendlichen ihre Kompetenz zum kritischen Denken.
Beim Format „Future Activity“ steht die Problemlösung im Mittelpunkt. Im kollaborativen Prozess überlegen die Jugendlichen, wie sie die geschilderten Herausforderungen angehen und was sie dem Unternehmen auf seinem transformativen Weg empfehlen würden. Dabei reflektieren sie auch die ökologische, ökonomische und soziokulturelle Wirkung ihrer Vorschläge, die dem Unternehmen präsentiert und von den anwesenden Mitarbeiter*innen bewertet und ggf. zurück ins Unternehmen getragen werden.
Ablauf Future Activity
#1 IMMERSE Taucht ein in die grüne Arbeitswelt und informiert euch über berufliche Perspektiven!
#2 RESEARCH AND INVESTIGATE Findet heraus, wie nachhaltig das Unternehmen ist!
#3 WALK AND ASK Verschafft euch ein realistisches Bild beim Unternehmensbesuch!
#4 HELP THE COMPANY Unterstützt das Unternehmen bei der Umsetzung seiner Nachhaltigkeitsziele!
#5 PUBLISH AND PARTICIPATE Gestaltet Medienbeiträge mit euren Future-Job-Messages!
Dadurch, dass die Jugendlichen sich aktiv in die Unternehmensentwicklung einbringen dürfen, ihre Ideen ernst genommen, abgewogen und möglicherweise von Unternehmensseite sogar aufgegriffen werden, erfahren sie Selbstwirksamkeit. Sie erleben sich als kompetent, was sich positiv auf ihre Motivation und Handlungsbereitschaft auswirkt.
Damit die Jugendlichen ihre neuen Erkenntnisse und Erfahrungen für ihre eigenen beruflichen Zielsetzungen einordnen können, brauchen sie ausreichend Zeit zur Selbstreflektion. Reflexionsphasen sind deshalb an mehreren Stellen im Konzept verankert und werden durch spezifische Methoden und Fragen zu persönlichen Zielen, Motiven, Werten und Meinungen unterstützt.
Inhalte, Methoden und Ablauf
Die beiden Dialogformate „Future Talk“ und „Future Activity“ beinhalten fünf aufeinander aufbauende Challenges, welche die Jugendlichen weitgehend selbstgesteuert in Kleingruppen bearbeiten. Highlight ist der Austausch mit den Beschäftigten an der Schule bzw. im nachhaltigen Unternehmen selbst. Durch die Challenges führt ein ansprechend gestaltetes Lernheft, das den Jugendlichen auch zur Ergebnissicherung dient. Die einzelnen Aufgaben sind methodisch abwechslungsreich und binden verschiedene, auch digitale Lernmedien ein, die über QR-Code im Heft integriert sind. Um ein lebendiges Lernen mit kreativen und erfahrungsbasierten Methoden zu ermöglichen, werden journalistisch-erkundende und transformativ-gestaltende Zugänge mit biografischen, sinnlichen und kooperativen Elementen genutzt. 2)
Neben den hier vorgestellten Konzepten hat der Wissenschaftsladen Bonn noch drei weitere Dialogformate speziell zur Bioökonomie veröffentlicht. Alle Formate orientieren sich an den Inhalten und Kompetenzanforderungen für das Fach Arbeitslehre. Sie können ab Jahrgangsstufe 9 in der schulischen wie außerschulischen Berufsorientierung zum Einsatz kommen.
Angebot für Schulen
Auf Grundlage der beiden Formate „Future Activity“ und „Future Talk“ führt der Wissenschaftsladen Bonn im Rahmen seines Projekts „Jobs for Future NRW“ bis Ende 2023 Veranstaltungen mit Schulen durch. Das Projekt wird gefördert von der Stiftung Umwelt und Entwicklung Nordrhein-Westfalen. Schulklassen aus NRW können sich auf dieses Angebot noch bewerben! Danach werden die Konzepte noch einmal überarbeitet und unter CC-Lizenz veröffentlicht. Auf Anfrage können sie aber auch jetzt schon eingesehen und eingesetzt werden.
Autorin und Kontakt:
Iken Draeger Wissenschaftsladen Bonn e.V.
Netzwerk Grüne Arbeitswelt
iken.draegerwilabonnde
1) Shell Jugendstudie 2019: https://www.shell.de/ueber-uns/initiativen/shell-jugendstudie.html
2) Orientierungsrahmen BBNE (noch unveröffentlicht)