Welches Potenzial haben Naturerfahrungen für die Bildung für nachhaltige Entwicklung?

Das Coronavirus hat uns gezeigt, wie fragil das Zusammenleben von Mensch und Natur geworden ist. Und doch haben viele Menschen durch die Pandemie Natur wieder schätzen gelernt. Um dem Lockdown zu entkommen, waren Spaziergänge im Stadtpark, Streifzüge in der freien Natur und die Erholung in schönen, ortsnahen Naturräumen sehr gefragt. Sie haben auch zur Resilienz vieler von der Pandemie betroffener Menschen beigetragen. Naturerfahrungen, Exkursionen, Draußenschule und andere Bildungsangebote in und mit der Natur sind bei Umweltzentren sehr stark nachgefragt. Und das nicht erst seit Corona. Naturerfahrungen gehören zum festen Repertoire der Umweltbildung seit den 80er Jahren. In letzter Zeit wird vermehrt darauf verwiesen, dass sie auch im Rahmen der Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) eine wichtige Rolle spielen, was im Folgenden aufgezeigt werden soll.

Bildung für nachhaltige Entwicklung als werteorientierter Ansatz

Bildung für nachhaltige Entwicklung ist ein normativer Bildungsansatz, dem die Vision einer nachhaltigen, gerechten und fried­lichen Welt zugrunde liegt. Diese muss im gesellschaftlichen Diskurs zwischen ökolo­gi­schen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Dimensionen und politischen Rea­litäten ausgehandelt werden. Der Blick auf ökologische Nachhaltigkeit, auf „die Natur“, ist immer auch ein Teil dieses Diskurses. Die derzeitigen Krisen – die Co­ro­na- und Energiekrise, der Klimawandel und der Krieg gegen die Ukraine – erfordern mehr denn je, dass wir unser bisheriges Wissen und unsere Hand­lungsmuster über­denken und über­legen, welche Werte und Einstellungen dazu führen, dass Menschen fundierte zukunftsfähige Ent­schei­dungen treffen und danach handeln. Bildung für nachhaltige Ent­wicklung soll zu diesem Reflexions­prozess beitragen und durch Erwerb von Wissen und Kompe­tenzen zu Hand­lungsbereitschaft führen. Dieser Re­flexions­prozess kann gut ge­lingen, wenn wir ein Urvertrauen zur Welt haben und in ihr positiv verortet sind. Dazu können Natur­erfahrungen in der Kindheit viel beitragen und auch im Verlauf des Lebens intensive Anregungen geben.

Bildung kann in diesem Kontext nach Klafki als kritischer und konstruktiver Prozess verstanden werden, in dem sich Menschen neue Sichtweisen, Fähigkeiten und Hand­lungsmöglichkeiten aneignen. Damit ver­bun­den ist die Stärkung der Persön­lichkeit durch die Fähig­keit zur Selbstbestimmung, zur Mitbe­stimmung und zur Teilhabe an öffentlichen und politischen Meinungs­bil­dungs- und Ent­scheidungs­prozessen. Wich­­tig ist dabei auch die Übernahme von Verantwortung für das eigene Handeln und die Solidarität mit denen, die das nicht können (vgl. Gebhard et al., 2021). Ent­scheidend in diesem Bildungs­prozess sind die Sub­jektivität des Individuums und seine Beziehung zur Welt. Dabei sollten wir nicht vergessen: Bildung ist immer ein ergeb­nisoffener Prozess, der sich einer ein­deutigen Messung von Ursache und Wirkung entzieht (vgl.Nachreiner et al., 2020).

Wichtig ist im Vermittlungsprozess die Rolle von Pädagog*innen, die gute Lern­vo­raus­setzungen ermöglichen, Lern­set­tings auf die jeweilige Zielgruppe und sozialen Milieus abstimmen und für eine Offenheit der Zugänge sorgen. Gute Bildung beruht auf Freiwilligkeit. Durch die Partizipation der Lernenden kann deren Lernerfolg stark gefördert werden. Aufgabe von Päda­gog*innen ist es, Erfahrungsräume für Ler­nende zu schaffen, in denen sie zu viel­fältigen Erkenntnissen gelangen können, und sie zu ermutigen, diese in zukunfts­fähiges Handeln umzusetzen. Dieses Bil­dungs­verständnis sowie der pädagogische Ansatz gelten insbesondere für Natur­er­fahrungslernen im Kontext der BNE.

Erfahrungsräume – Lernen in und mit der Natur

Der Begriff „Naturerfahrung“ wird in der Literatur sowie in der Praxis recht unter­schiedlich verwendet. Hier wird er in einem weiten Sinn gebraucht, der eine bewusste, reflexive Auseinandersetzung mit der Natur ebenso impliziert, wie Naturkontakte und Naturbegegnungen. Natur an sich ist ein Erfahrungsraum für Menschen. Natur wird als Gesamtheit im Gegensatz zu Zivilisation, Kultur und Technik gesehen. Der Park um die Ecke kann damit gemeint sein, Kul­tur­landschaft und alle Dinge und Phänomene, die nicht vom Menschen gemacht sind. Der Begriff Natur ist sehr vielschichtig und beinhaltet eine gewisse Dialektik, da wir einerseits im Prozess des Geborenwerdens, Lebens und Sterbens Teil der Natur sind, ihr aber andererseits agierend und sie nutzend gegen­überstehen. Natur kann bezaubernd schön, aber auch angst­einflößend sein. Dieses ambivalente Verhältnis fließt auch in Naturerfahrungen mit ein. Gebhard macht darauf aufmerksam, dass im Prozess naturpädagogischer Bil­dungsarbeit die subjektive Beziehung des Individuums zur Natur respektiert werden müsse sowie die Unantastbarkeit der Natur selbst, die sich nicht auf natur­wissen­schaftliche Konzepte redu­zie­ren lässt (vgl. Gebhard et al., 2021).

Eine neuere Veröffentlichung japanischer Nachhaltigkeitsforscher*innen im Fachblatt „Science Advances“ (vgl. Huynh, 2022) zeigt durch die Auswertung internationaler Studien, wie wichtig Natur für den Menschen ist und dass das subjektive Er­fahren von Natur Wohlbefinden und Ge­sund­heit stärkt sowie identitätsstiftend ist. Die japanische Nachhaltigkeits­for­scherin Lam Huynh und ihr Team iden­tifizieren 16 Beziehungsmuster („types of connection“), wie das Wahrnehmen von Natur die Lebensqualität der Menschen steigern kann. Dazu gehört z.B., dass Natur identi­täts­stiftend und gesundheitsfördernd wirkt, zufrieden macht, Generationen verbindet und ein Gefühl von Transzendenz vermittelt. Die Autor*innen beklagen, dass diese im­ma­teriellen Werte bei Entscheidungen zum Schutz der Natur selten mit einfließen und auch ihr langfristig wirtschaftlicher Nutzen nicht erkannt werde.

Bildung für nachhaltige Entwicklung basiert auf Wertebildung. In diesem Bereich kön­nen Naturerfahrungen eine Basis legen, auf der weiter aufgebaut werden kann. Der Naturpädagoge Joseph Cornell (vgl. Cornell, 2006) war davon überzeugt, dass Naturerfahrungen nicht nur Kinder zu Natur­begeisterung und zu einem sensiblen Naturbewusstsein führen können. Ziel sei­ner Naturerfahrungsübungen ist, sich als Teil der Natur zu fühlen und ein gestei­gertes Mitgefühl für alles Leben zu emp­finden. Er entwickelte die Methode des „Flow Learning“, um mit einer Vielzahl von Übun­gen und entsprechendem Aufbau (Be­geisterung wecken, konzentriert wahr­neh­men, unmittelbar erfahren, andere an dei­nen Erfahrungen teilhaben lassen) Natur­erfahrungen zu einem überwältigen­den und lange andauernden Erlebnis zu machen. Entscheidend ist hier die Reflexion der Naturerlebnisse. Wenn das emotionale Verständnis für den Erhalt der natürlichen Umwelt geweckt wird, kann Naturerfahrung auch dazu beitragen, unser Leben als sinn­voll wahrzunehmen. Eine positiv den­ken­de Persönlichkeit oder eine Verortung in der Natur können auch Anlass zu nach­haltigen Lebensstilen sein.

Lernen aus der Krise, Umgehen mit Dilemmata und Irritation

Die japanische Untersuchung (s.o.) zeigt auch, dass Naturerfahrungen nicht nur po­sitiv sein können. Zumal in Zeiten von Klimawandel und Biodiversitätsverlust kann es zu verstörenden Erfahrungen in und mit der Natur kommen (z.B. Bienensterben, Über­schwemmungen etc. und deren er­fahrbare Folgen für die Einzelnen). Irri­tierende Auseinan­der­set­zungen können zum Katalysator von Bildungsprozessen werden, wenn Hand­lungsroutinen unter­brochen werden oder gewohnte Sicht­weisen und Vor­stellungen auf Widerspruch stoßen. In der BNE kann gerade durch dis­ruptive Erlebnisse neues, innovatives Den­ken ausgelöst werden, wenn es päda­gogisch begleitet ist, was im Sinne der gro­ßen Transformation auch immer notwen­diger ist (siehe Roadmap BNE 2030). Wir brauchen neue Wege und Denkansätze, um die Nachhaltigkeitsziele umzusetzen.

Vom Wert von Naturerfahrungen für die BNE

Ein Blick in die empirische Forschung zeigt, dass regelmäßige Naturerfahrungen in der Kindheit meist positive Effekte haben. Ein positives und reflektiertes Erleben von Natur kann die mentale, soziale, physische und psychische Entwicklung von Kindern fördern (vgl. Raith, Lude 2014; Gebhard et al., 2021; Gebhard, 2022). So haben Natur­erfahrungen eine eigenständige Be­rech­tigung, da sie, wie in vielen Studien nach­gewiesen, sowohl eine positive Ent­wicklung von Kindern und Jugendlichen för­dern und somit zur Persönlich­keits­ent­wick­lung und geistiger Mündigkeit bei­tragen können, als auch späteres Enga­gement für Umwelt- und Nach­haltig­keits­themen be­güns­tigen. Sie stellen einen möglichen Fak­tor für nach­haltige Verhal­tensweisen dar.

Auch neuere Veröffentlichungen zum The­ma „Draußenlernen und Bildung für nach­haltige Entwicklung“ (vgl. von Au, Ju­cker 2022) zeigen, wie vielperspektivisch Zu­gänge für Kinder und Jugendliche beim Ler­nen in der Natur sein können. Aus vielen Studienergebnissen wurden von den Auto­ren neben weiteren wichtigen Kompe­tenzen für ein zukunftsfähiges Leben sechs übergeordnete Kategorien iden­tifiziert, die zur BNE beitragen: physische und psy­chische Gesundheit, Natur­verbun­denheit, Selbst-, Sach- und Sozial­kompetenz. Diese sind nicht einzeln, sondern in ihrem viel­fältigen Zusam­menwirken zu sehen, um die Hindernisse und Herausforderungen nach­haltiger Ent­wick­lung zu meistern.

Darüber hinaus gibt es Belege (vgl. u.a. Huynh, 2022), dass Menschen aller Alters­gruppen Natur brauchen, weil sie mit Land­schaften und Naturräumen Kindheits­erin­ne­rungen, Rituale, Vertrautheit und Ge­fühle von Zugehörigkeit und Sicherheit verbinden. Damit können Naturer­fah­rungen identi­täts­stiftend sein sowie Sinn und Werte bildend wirken. Sie können zu einem mora­lisch-ethi­schen Wertekanon beitragen, um un­sere Eine Welt nach­haltiger und gerech­ter zu machen.

Daher das Fazit: Naturerfahrungen können Menschen jeglichen Alters im Sinne der Bildung für nachhaltige Entwicklung stär­ken. Sie können eine positive Verortung in der Einen Welt sowie Zu­kunfts­visionen einer gerechten und fried­lichen Gesell­schaft fördern, Mut machen, Neues auszu­pro­bieren und sich ein­zumischen. Wesent­lich erscheinen hierfür eine reflexive, offene Hal­tung, das Schaffen von Erfahrungs­räumen, Raum für Spontaneität, Intuition und Re­flexion. So gestaltet sind ganz unter­schiedliche Angebote in und mit der Natur wesent­licher Teil einer zeitgemäßen Bil­dung für nachhaltige Entwicklung.

Literatur

Cornell, J. (2006): Mit Cornell die Natur er­leben. Der Sammelband. Naturer­fah­rungsspiele für Kinder und Jugend­liche. Verlag an der Ruhr, Mülheim

Gebhard, U.; Lude, A.; Möller, A.; Moor­mann, A. (Hrsg.) (2021): Natur­er­fahrung und Bildung. Springer Verlag, Wies­baden

Huynh, L. T. M.; Gasparatos, A., Su, J.; Dam Lam, R.; Grant, E. I.; Fukushi, K. (2022). Linking the nonmaterial dimensions of human-nature relations and human well-being through cultural ecosystem services. Science advances, 8(31): www.science.org/doi/10.1126/sciadv.abn8042 (4.10.22)

Ködelpeter, T.; Kreuzinger, S.; Schlehufer, A. (Hrsg.) (2022): Wandel braucht Bildung. Im­pulse, Konzepte und Praxis zur Bildung für nachhaltige Entwicklung. oekom Verlag, München

Nachreiner, M.; Laufer, D.; Belakhdar, T.; Koch, U.; & Oeschger, A. (2020). Umwelt­bildung und Bildung für nachhaltige Entwicklung – zielgruppenorientiert und wirkungs­orientiert! Dessau-Roßlau: Um­welt­­­bundesamt: www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/1410/publikationen/2020-06-29_texte_118-2020_umweltbildung-bne.pdf (3.10.22)

Raith, A.; Lude, A. (2014): Startkapital Na­tur. Wie Naturerfahrung die kindliche Ent­wicklung fördert. oekom Verlag, München

Von Aue, J.; Jucker, R. (Hrsg.) (2022): Draußen­lernen. Neue Forschungser­geb­nisse und Praxiseinblicke für eine Bildung für nachhaltige Entwicklung. hep Verlag AG, Bern

Autorinnen und Kontakt:

Steffi Kreuzinger,

Ökoprojekt MobilSpiel e.V.

steffi.kreuzinger@mobilspiel.de

Marion Loewenfeld, Vorstandsmitglied im ANU Bundesverband

marion.loewenfeld@anu.de