Narrative und Erzählungen in der BNE

In der BNE haben wir oft ein additives Verständnis von Lernen. Neues Wissen wird bisherigen Wissensbeständen hinzugefügt. Selbst wenn „Reflexion als Ausgangspunkt und Bedingung (1) für überlegtes Handeln, (2) für eine veränderte Interpretation von Kontexten und Situationen sowie (3) für die Verankerung des Gelernten im dauerhaften Interpretations- und Handlungsrepertoire" [1] im Lern-arrangement angelegt ist, bleibt es meist additiv. Ansätze des transformativen, erzählerischen Lernens könnten dies aufbrechen. Erfolgreich sind die Narrative dann, wenn sie die grundlegenden Muster, die dem menschlichen Wahrnehmen und Interpretieren zugrunde liegen sowie die Sicht auf die Welt verändern; wenn sich unser Selbstbild und Selbstverständnis in Bezug zu unseren sozialen Beziehungen und natürlichen Verortungen durch eine Metamorphose unserer Grundannahmen des Denkens, Fühlens und Handelns ändert. Mezirow nennt diese Muster Bedeutungsebenen – wir nennen das: Narrative und meinen damit, dass wir spezifische schlüssige Muster für unsere Welterklärung (Deutung) haben.

Was sind Narrative? Narrative spiegeln soziale, kulturelle und kollektive „Vereinbarungen“ über Weltsichten und Grundhaltungen wieder. Sie erklären die Welt und durch gegenseitiges Erzählen vergewissern wir uns, dass diese Sichtweisen und Deutungen (Erklärungen) zumindest in unserer „Gruppe“, in unserem Milieu, in unserer Kultur schlüssig sind. (Der Markt, als die steuernde, „unsichtbare Hand“ gesellschaftlicher Entwicklung ist dafür ein Beispiel.) Ein Narrativ ist also eine sinnstiftende Erzählung, die entschei-denden Einfluss darauf hat, wie die Umwelt wahrgenommen und wie und durch welche Maßnahmen sie gestaltet wird. Eine Erzählung transportiert Werte und Emotionen und unterliegt dem zeitlichen Wandel. Bei den Themen Klimawandel oder Anthropozän zeigt sich dies gerade. In diesem Sinne sind Narrative keine beliebigen Geschichten, sondern etablierte Erzählungen, die schlüssig und mit einer Legitimität versehen sind. Narrative geben gesellschaftliche Orientierung und können Zuversicht vermitteln. Nun zeigt sich spätestens seit den 2000er Jahren, dass die bislang tragenden Narrative wie „Moderne und Fortschritt“ oder „neoliberale Marktsteuerung“ nicht mehr „ziehen“, wohl nicht mehr geeignet sind, schlüssige Orientierungsansagen zur Organisation der Gesellschaft zu sein. Es sind andere, neue Rahmenbedingungen entstanden (Klima-wandel und Anthropozän), für die andere Muster gelten. In diese Lücke sind bisher wirkmächtige alte, nationalistische Narrative gestoßen. Was sie ausmacht ist, die wissensbasierte Deutung der Welt anzuzweifeln. Wenn wir dieser Erläuterung folgen, dann lautet der naheliegende Schluss: Wollen wir aus der BNE heraus Bewegungen initiieren und wirkungsvoll begleiten, die sich der nachhaltigen Entwicklung verschreiben und zu Fortschritt beitragen, dann braucht es dafür entsprechende Narrative. Es muss erzählt werden, welches Verständnis wir von Fortschritt haben, was Transformation bedeutet und wie eine nachhaltige Gesellschaft aussehen kann. Das geht nicht allein mit datenbasierter Argumentation. Es braucht erzählerische Einbettungen in alltagskulturelle Zusammenhänge, die durch diesen neuen Fortschritt entstehen!

Nun könnte man sagen: sind z.B. die planetaren Leitplanken nicht Narrativ genug? Ja und Nein. Was wir nicht tun sollen, sagen uns die Leitplanken, aber sie sagen uns nicht, wie wir handeln sollen. Das Bild der planetaren Leitplanken basiert stark auf kognitiv orientierten Informationen, gibt jedoch keine zukunftsweisende und handlungsrelevante Orientierung. Im Gegensatz dazu sind es eher Erzählungen, Geschichten und Episoden, die uns helfen, die Welt zu verstehen, indem sie Charaktere und Situationen beispielhaft in konkrete Erlebniswelten übertragen – das ist erst einmal fiktiv. Im Vergleich zu Informationen können Geschichten die Veränderbarkeit der Welt (Möglichkeitssinn) und die dafür möglichen Handlungslogiken besser transparent machen. Wir nehmen Anteil daran, wie das Handeln von Personen den Lauf der Dinge beeinflusst hat und beeinflussen kann. Erzählt wird mit einem roten Faden und mit Personen in Handlungssituationen, durch die der/die Rezipient*in nicht nur Wissen über die Veränderbarkeit aufnimmt, sondern sich auch identifiziert. Dieses Erzählen liefert den Stützrahmen (Gerüst/Narrativ), in welchen Details (Fakten) und Intentionen des Erzählers eingewoben werden können. Soll heißen, der grobe Rahmen wird über die Geschichte vorgezeichnet (Subtext), die es erlaubt, Details, neue wissenschaftliche Befunde, eigene Irritationen und philosophische Deutungen besser einzuordnen und damit besser zu verstehen. Somit tauchen in Geschichten und Erzählungen, die wir weitererzählen, im Hintergrund unsere Narrative auf.

Sozialwissenschaftliche Studien einerseits und die empirische Bildungsforschung andererseits zeigen zudem, dass kollektive Vorstellungen und Erzählungen oft wirksamer sind als reine Informationen. So können tief verwurzelte Weltanschauungen, also die grundlegenden Vorstellungen darüber, wie Gesellschaften in ihren Umwelten organisiert werden sollten, die Einstellungen von Menschen gegenüber Phänomen wie etwa dem Klimawandel stärker beeinflussen als wissenschaftliche Daten.

Dies führt zu der Frage, wie bestehende vordergründige Ordnungen, Selbst-verständlichkeiten, Konventionen (also traditionelle Narrative) und herrschende Diskurse zugunsten nachhaltiger Entwicklung anders gedacht werden können. Man kann auch sagen: es braucht eine »narrative« Kritik! Und die schließt Erkläransätze zu nachhaltiger Entwicklung mit ein.

Ein Beispiel: In den vergangenen Jahren nahmen die wissenschaftlichen Erkenntnisse und Erklärungen über Themen wie Klimawandel, Meeresverschmutzung, Extremwetter u. a. stark zu und wurden entsprechend in den Medien kommuniziert. Die Details im Nachhaltigkeitskontext wurden klarer und eindeutiger – der Rahmen, also das systemische Verständnis der Schnittmengen zwischen den Details aber wurde unklarer und bewirkte eher eine Verunsicherung über Entwicklungspfade nachhaltigen Fortschritts und ihre Chancen.

Hinzu kommt ein weiteres Manko: Wir haben viel zu erzählen, was wir nicht tun sollten. Was aber letztlich fehlt, sind Erzählungen darüber, wie innerhalb der Leitplanken gelebt werden kann, wie z. B. eine Klimakultur im Alltag aussehen könnte. Ohne wissensbasierte Zukunftser-zählungen fehlt uns ein Bild davon, wie wirksame Transformationspfade und deren Akzeptanz in den unterschiedlichen Interessengruppen der Gesellschaft aussehen können. Zukunftsorientiertes, szenisches Erzählen ist ein Erzählen aus der Zukunft heraus (Futur 2). Wenn daraus ein Narrativ entstehen soll, dann muss es die gesamte Gesellschaft umfassen, nicht nur Erzählungen aus Nischen und Randge-bieten. Anders als in der bisherigen Kulturgeschichte der Menschen sind es die Zeichen und Erzählungen der Zukunft, die uns Präferenzen für heutiges Handeln geben. Sonst bleiben wir im „alternativlosen“ und permanenten Krisenmanagement. Dieses Erzählen aus der Zukunft ist eine ungeheure, kreative Anstrengung. Sie erfordert die Schulung unseres Möglich-keitssinnes. Die Fähigkeit, sich mögliche Zukünfte vorzustellen, umfasst auch, sich der Gegenwehr der Interessengruppen in den heutigen Machtstrukturen klar zu werden.

Wenn wir die Zukunft und die Transformation erst „lesen lernen können“, indem wir sie gestalten, dann sind fertige, abgeschlossene Erzählungen, wie sie in hierarchischen Gesellschaften dominieren und von oben nach unten (top down) erzählt werden, wenig zielführend. – Ja, sie unterliegen der Gefahr, Zukunft nur als verlängerte Gegenwart zu beschreiben.

Erzählungen, die das Suchen und Lernen miteinschließen, sind offene Geschichten, die verändert, korrigiert, repariert, re-editiert werden können, die Perspektivwechsel ertragen und Kontroversen als Berei-cherung auffassen.

Kontakt:

Joachim Borner
Kolleg für Management und Gestaltung nachhaltiger Entwicklung (KMGNE)
jborner@kmgne.de
www.kmgne.de
; www.ccclab.org

[1] M. Singer Brodowski (2016): Transformatives Lernen als neue Theorie-Perspektive in der BNE. In: Jahrbuch Jahrbuch Bildung für nachhaltige Entwicklung – Im Wandel. (www.researchgate.net/publication/303999776_Transformatives_Lernen_als_neue_Theorie-Perspektive_in_der_BNE)

[2] S. Lewandowsky , B. Winkler (2018): Desinformation zum Klimawandel – und was man dagegen tun kann. In: Deutscher Wetterdienst (Hrsg.). Klimakommunikation. Promet Heft 101 , S. 8 - 14