Dr. Verena Ketter ist seit 2015 Professorin für Medien in der Sozialen Arbeit an der Fakultät Soziale Arbeit, Bildung und Pflege der Hochschule Esslingen. Sie lehrt und forscht zu Fragen im Kontext von Medien in der Sozialen Arbeit, Medienpädagogik, Jugendbildung, Jugendbeteiligung mit digitalen Medien, Sozialraum, methodischen und didaktischen Zugängen, Virtuelle Realität und Digitalisierung der Hochschulbildung. Auf der ANU-Tagung „Lernen zwischen Bits und Bäumen“ im November 2022 hat sie den Teilnehmenden in ihrem Vortrag bereichernde Einblicke in die medienpädagogische Arbeit in Zusammenhang mit Nachhaltigkeitsthemen gegeben. In diesem Interview beleuchten wir einzelne Fragestellungen nochmals in kompakter Form(Interview: Larissa Donges).
Frau Ketter, Sie beschäftigen sich in Ihrer Forschung und Lehre sowohl mit der Medienpädagogik, als auch mit der Jugendbildung und Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE). Welche Schnittmengen und Parallelen sehen Sie zwischen diesen Bereichen?
Bei Bildung für nachhaltige Entwicklung betrachte ich mich eher als Lernende und bringe meine Expertise aus der Medienpädagogik und Jugendbildung in die aktuelle Fachdiskussion ein. Die Medienpädagogik und die BNE beziehen sich meines Erachtens auf ein vergleichbares Bildungsverständnis, wonach Bildung als unabgeschlossener Transformationsprozess gilt, der im Spannungsverhältnis von individueller Autonomie und gesellschaftlicher Anpassung verläuft. So verstandene Bildung in Zeiten der Digitalisierung ist nicht nur auf die bloße Anhäufung von Wissen reduziert. Vielmehr werden im Kontext solcher Bildungsprozesse vorhandene Auffassungen und Sichtweisen auf das eigene Selbst, auf Formen des Zusammenlebens und auf die Welt reflektiert sowie infrage gestellt. Dies kann zum Revidieren und zur Veränderung von Selbst-Mitmenschen-Welt-Verhältnissen führen. Selbstbestimmung und Unabhängigkeit werden zwar angestrebt, jedoch nicht völlig losgelöst, sondern vielmehr in sozialer Verbundenheit. Daher sind bei der Ausgestaltung von Bildungsangeboten in der Medienpädagogik und meiner Auffassung nach auch in der BNE die drei Grundfähigkeiten von Wolfgang Klafki zu berücksichtigen: die Fähigkeit zur Selbst- und Mitbestimmung sowie zur Solidarität.
Darüber hinaus beziehen sich BNE und Medienpädagogik auf Kompetenzmodelle, in denen es anstelle von Verboten, Verhaltensvorgaben und ausschließlicher Wissensvermittlung um die Entwicklung von Gestaltungskompetenz bzw. Medienkompetenz (mit Medienkunde, -kritik, -nutzung und -gestaltung) geht. Beide Modelle basieren auf einem kritisch-konstruktivistischen Bild eines über eigene Ressourcen verfügenden Subjekts, das aufgrund dieser eigenen Kräfte handlungs- und gestaltungsfähig ist. Grundlage bilden jeweils das Erkennen, Hinterfragen und Einschätzen gesellschaftlicher Entwicklungen sowie Normen, inklusive digitaler Technologieentwicklungen. Diese Reflexionen sind anschließend auf das eigene Handeln in sozialer Verantwortung zu übertragen.
Insbesondere die Partizipation spielt ja in der BNE eine wichtige Rolle. BNE zielt darauf ab, Menschen zu befähigen, eine nachhaltige Zukunft aktiv mitzugestalten. Gleichzeitig werden auch die Bildungsangebote selbst partizipativ und interaktiv gestaltet. Welche Chancen (oder auch Risiken) sehen Sie diesbezüglich in digitalen Methoden und Räumen?
Diese Frage ruft bei mir mehrere Nachfragen hervor: Was bedeutet denn „digitale Methoden und Räume“? Handelt es sich um eine Zweiteilung in analog/online und digital/offline? Diese Trennung hat der Medienphilosoph Peter Weibel bereits Mitte der 1990er-Jahre mit dem Begriff „vireal“ aufgehoben. Der Mediendidaktiker Michael Kerres verwendet im Jahr 2017 die Bezeichnung „digital geprägt“ und im 16. Kinder- und Jugendbericht zum Thema „Förderung demokratischer Bildung im Kindes- und Jugendalter“, veröffentlicht im November 2020, wird von „onlife“ gesprochen. Alle diese Begriffe verdeutlichen, dass es eine Ausschließlichkeit nicht gibt und unsere Lebensrealität nicht in zwei getrennten Welten stattfindet. Sie sind hingegen als Verschmelzung zu verstehen, die von uns verlangt, weg von dem Gedanken des Ersetzens hin zur Ergänzung zu kommen. In diesem Sinne denken und handeln übrigens viele junge Menschen, wenn sie (re)mixen, also aus etwas Altem Neues entwickeln. Und genau hierin liegt eine entscheidende Grenze: Technik oder Tools führen nicht per se zu mehr Teilhabe. Bildung, soziale Herkunft u.a.m. beeinflussen die Nutzung digitaler Medien und führen zu einer Reproduktion bestehender, auch struktureller Ungleichheiten wie die digitale Ungleichheitsforschung nahelegt. Mit niedrigschwelligen und diversitätssensiblen Angeboten sowie Interventionen gilt es, diesen Ungleichheiten zu begegnen, um möglichst viele an der Entwicklung von Neuem teilhaben zu lassen.
Wie können wir dann Ihrer Meinung nach medienpädagogische Ansätze und digitale Tools verantwortungsvoll und zielführend in der BNE nutzen? Was sind die Kriterien für eine „gute“ digital geprägte BNE?
Die technisch-instrumentelle Nutzung digitaler Tools ist ja nur ein Teilaspekt der Medienpädagogik, worauf sie jedoch allzu oft reduziert wird. Ausgehend von dem oben skizzierten Bildungsverständnis eröffnet die Medienpädagogik seit mindestens den 1980er Jahren im Rahmen zahlreicher, handlungsorientierter Medienprojekte eine reflektiert-kritische Auseinandersetzung mit ökologischen, ökonomischen und sozialen Themen. In Anlehnung an das Sternmodell der BNE von Gerhard Becker, das zur Begriffsschärfung der nachhaltigen Entwicklung beitragen soll, können diese drei Dimensionen um Partizipation und Kultur ergänzt sowie das Soziale in Gerechtigkeit umgewandelt werden. Im Mittelpunkt dieser miteinander verwobenen und gleichwertigen Dimensionen steht die Transformation von digital geprägten Selbst-Mitmenschen-Welt-Verhältnissen, entsprechend des Bildungsbegriffs der oben eingeführt wurde. Auf diese Weise erstrahlt der „Stern digital geprägter Bildung für nachhaltige Entwicklung“, dessen Kriterien zur Analyse, aber auch als Praxisimpuls herangezogen werden können.
Kennen Sie gute Praxisbeispiele, die die oben genannten Kriterien erfüllen und wertvolle Impulse für die eigene Arbeit geben können?
Nach einer Analyse von Bildungsangeboten mit Bezug zur Medienpädagogik oder zur BNE lassen sich folgende Praxisprojekte einer der fünf beschriebenen Dimensionen zuordnen. Die meisten Projekte lassen sich auf der Ebene der Ökologie verorten und nehmen die Erhaltung des Ökosystems in den Blick. Hierunter fallen Filmproduktionen (z.B. Umweltfilmredaktion des Medienprojekts Wuppertal), ein mediengestüztes Aktionsbuch für Kinder im Vorschulalter und App-gestützte Stadtrallyes („ExpeditioN Stadt“ der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg und ein nachhaltiger Spaziergang durch Esslingen der Hochschule Esslingen). Das in dieser Ausgabe vorgestellte Projekt DINOA zum Wandel von Normalitätsvorstellungen in digitalen Lebenswelten hat Seltenheitswert, da es sich mit dem Thema Identitätsbildung und Konsum, dem eigentlichen Kern einer digital geprägten BNE widmet: Der Transformation von Persönlichkeitsbildung in Bezug zu den Mitmenschen und der Welt. Zur Dimension soziale Gerechtigkeit zählt das Bildungsangebot BNE-Kit II „365 BNE-Perspektiven“, das didaktische Anleitungen für den Kindergarten bis zur neunten Schulklasse anbietet. Die DIGITALWERKSTATT Karlsruhe oder das ComputerProjekt Köln e.V. sind Praxisbeispiele der Kultur-Ebene, weil sie kreativ-ästhetische Ausdrucksformen in reflektiert-kritischer Form aufgreifen. Wie auch in anderen MakerSpaces, DIY-, Up- und Downcyling-Projekten werden Weiternutzungsmöglichkeiten von beispielsweise aussortierten Notebooks und grundlegende Themen der Digitalisierung wie z.B. der Schutz persönlicher Daten behandelt. „Güggeltown – Die Stadt aus dem 3D-Drucker“ oder Online-Jugendbeteiligungsprojekte sind Beispiele für Stadtentwicklungs- und Sozialraumprojekte und repräsentieren die Dimension Partizipation. Auch die kostenlosen Online-Kurse „jbjMOOC – Online-Kurs für digitale Jugendbeteiligung“ und „jbjMOOCrecht – Alles was Recht ist“ stellen einige Tools und Praxisprojekte vor. Das Projekt „ÖHA! Ein Mit-Mach-Projekt der PH Wien“ setzt sich z.B. mit den Produktionsbedingungen eines Smartphones auseinander, weshalb es die Ebene der Ökonomie vertritt. Bei den Projektanalysen wurde deutlich, dass viele Bildungsangebote noch nicht die fünf Dimensionen zusammendenken, sich die Verknüpfung von Medienpädagogik und BNE am Anfang befindet und somit weiterer kooperativer Handlungs- sowie Forschungsbedarf besteht.
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