Wozu brauchen wir Natur? Natur als Erfahrungsraum und Sinninstanz

Prof. Dr. Ulrich Gebhard, Universität Hamburg

Prof. Dr. Ulrich Gebhard ging in seinem Vortrag auf die Grundlagen der Beziehung zwischen Mensch und Natur ein. Ein wichtiger Aspekt sei dabei, dass Natur für viele Menschen als Metapher für ein gutes Leben, für Gerechtigkeit und Glück stehe und damit als eine Art Sinninstanz fungiere. Natur solle und dürfe allerdings nicht – im Sinne eines naturalistischen Fehlschlusses – Werte und Sinn vorgeben, unter dem Motto „Was natürlich ist, ist gut“. Natur könne vielmehr ein Resonanzraum sein. Bilder, Gefühle und Atmosphären, die sich im Bewusstsein der Menschen mit „Natur“ verbinden, trügen dazu bei, das eigene Leben als ein sinnvolles interpretieren zu können.

Prof. Dr. Ulrich Gebhard berichtete über verschiedene Forschungsergebnisse zur Mensch-Natur-Beziehung und zur Rolle von Natur als Erfahrungsraum, darunter auch solche aus therapeutischen Zusammenhängen. Menschen wüssten mittlerweile, dass sie in die Natur eingebunden seien, Kinder schätzen in der Natur v.a. die Freizügigkeit und eine Mehrheit der Menschen schätze, dass sie in der Natur so sein können, wie sie sind. Besonders an der Natur sei auch, dass sie sowohl als immer gleich als auch als immer wieder neu erlebt werden könne. Nachgewiesen sei, dass der Aufenthalt in der Natur eine Erholung von verbrauchter Aufmerksamkeitskapazität bewirke. Eine Stressreduktion sei bereits nach einem 10-minütigen Waldaufenthalt nachweisbar. Dies gelte allerdings auch bei Betrachtung eines Waldes auf einem Bildschirm. Menschen sehnten sich nach Savannenlandschaften mit Anhöhen, die mit ihrer Weitsicht Sicherheit böte – der Landschaft, in der sich Affen zu Menschen fortentwickelt haben. Bei gärtnerischen Aktivitäten spräche einiges für einen positiven Effekt durch die Kombination von Aktivität mit einer passiv-„demütigen“ Haltung.

Zurück kommend auf die mehrfach angesprochenen Sinnstrukturen, erläuterte Prof. Dr. Ulrich Gebhard den Begriff der Alltagsphantasien. Darunter werden die latenten, intuitiven und unbewussten Sinnstrukturen verstanden. Gebhard empfahl für die pädagogische Arbeit von Umweltbildung und BNE, neben rationalen Argumentationen auch die Bedeutung des Unbewussten zu berücksichtigen. Alltagsphantasien sollten willkommen geheißen und zum Gegenstand von Reflexion gemacht werden. Ein Wandel des Naturbewusstseins – so die zentrale These Gebhards – habe nur dann eine Chance, wenn wir unsere intuitiven, weitgehend unbewussten Bilder und Phantasien zur Natur einerseits und die ökologischen, politischen und kulturellen Argumente im Hinblick auf Natur und Nachhaltigkeit andererseits miteinander in Beziehung brächten. Dabei folge er keinem antirationalen, naturschwärmerischen Duktus, sondern der Überzeugung, dass es rational sei, unsere irrationalen Anteile zum Gegenstand der Reflexion zu machen.

Mit einem Zitat von Erich Bierhals sprach Prof. Dr. Gebhard viele der anwesenden Naturschutzakteure direkt an: „Sind es die Gedanken an Ökosysteme, Stabilität, Regelfunktionen, an Rote Liste, ökonomischen Nutzen, Genpotential? Oder sind es gar keine Gedanken, sondern ein alle Sinne einbeziehendes Wahrnehmen, ein Gefühl, das wir nicht beschreiben können, das wir aber immer wieder haben, wenn wir etwas von selbst gewordenes, Wildes, Ursprüngliches, nicht vom Menschen geschaffenes, eigentlich nutzloses um uns haben? Ich meine, dass die Argumente, mit denen wir für den Schutz der Natur eintreten, gar nicht diejenigen sind, weshalb uns Natur selbst wichtig ist“.

Die Notwendigkeit, intuitive, auch irrationale Anteile zu reflektieren, spräche in hohem Maße für Naturerfahrungsangebote, belege allerdings nicht den oft erhofften Zusammenhang von Naturerfahrung und Umweltbewusstsein oder gar umweltgerechtem Handeln, ergänzte Prof. Dr. Gebhard. Hinweise auf einen begründeten Zusammenhang gäbe es bei Kants Überlegungen zum Naturschönen. Und so schloss er seinen Vortrag mit dem Hinweis darauf, dass Kant in der Kritik der Urteilskraft (1790) einen Zusammenhang zwischen der Hochschätzung des Naturschönen und einer moralischen Gesinnung sah. Kant mutmaßte, dass das Umgeben sein von einer schönen Natur Dankbarkeit erzeuge und diese durchaus in moralische Gefühle oder Motivationen transformierbar sein könne.

 

Artikel von Ulrich Gebhard: Wie viel „Natur“ braucht der Mensch? „Natur“ als Erfahrungsraum und Sinninstanz