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Oktober 2022: Naturerfahrungen in der BNE
Ausgabe Nr. 322
Inhaltsverzeichnis | nächster ArtikelTitelthema - Naturerfahrungen in der Bildung für nachhaltige Entwicklung
Welches Potenzial haben Naturerfahrungen für die Bildung für nachhaltige Entwicklung?
Das Coronavirus hat uns gezeigt, wie fragil das Zusammenleben von Mensch und Natur geworden ist. Und doch haben viele Menschen durch die Pandemie Natur wieder schätzen gelernt. Um dem Lockdown zu entkommen, waren Spaziergänge im Stadtpark, Streifzüge in der freien Natur und die Erholung in schönen, ortsnahen Naturräumen sehr gefragt. Sie haben auch zur Resilienz vieler von der Pandemie betroffener Menschen beigetragen. Naturerfahrungen, Exkursionen, Draußenschule und andere Bildungsangebote in und mit der Natur sind bei Umweltzentren sehr stark nachgefragt. Und das nicht erst seit Corona. Naturerfahrungen gehören zum festen Repertoire der Umweltbildung seit den 80er Jahren. In letzter Zeit wird vermehrt darauf verwiesen, dass sie auch im Rahmen der Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) eine wichtige Rolle spielen, was im Folgenden aufgezeigt werden soll.
Bildung für nachhaltige Entwicklung als werteorientierter Ansatz
Bildung für nachhaltige Entwicklung ist ein normativer Bildungsansatz, dem die Vision einer nachhaltigen, gerechten und friedlichen Welt zugrunde liegt. Diese muss im gesellschaftlichen Diskurs zwischen ökologischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Dimensionen und politischen Realitäten ausgehandelt werden. Der Blick auf ökologische Nachhaltigkeit, auf „die Natur“, ist immer auch ein Teil dieses Diskurses. Die derzeitigen Krisen – die Corona- und Energiekrise, der Klimawandel und der Krieg gegen die Ukraine – erfordern mehr denn je, dass wir unser bisheriges Wissen und unsere Handlungsmuster überdenken und überlegen, welche Werte und Einstellungen dazu führen, dass Menschen fundierte zukunftsfähige Entscheidungen treffen und danach handeln. Bildung für nachhaltige Entwicklung soll zu diesem Reflexionsprozess beitragen und durch Erwerb von Wissen und Kompetenzen zu Handlungsbereitschaft führen. Dieser Reflexionsprozess kann gut gelingen, wenn wir ein Urvertrauen zur Welt haben und in ihr positiv verortet sind. Dazu können Naturerfahrungen in der Kindheit viel beitragen und auch im Verlauf des Lebens intensive Anregungen geben.
Bildung kann in diesem Kontext nach Klafki als kritischer und konstruktiver Prozess verstanden werden, in dem sich Menschen neue Sichtweisen, Fähigkeiten und Handlungsmöglichkeiten aneignen. Damit verbunden ist die Stärkung der Persönlichkeit durch die Fähigkeit zur Selbstbestimmung, zur Mitbestimmung und zur Teilhabe an öffentlichen und politischen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozessen. Wichtig ist dabei auch die Übernahme von Verantwortung für das eigene Handeln und die Solidarität mit denen, die das nicht können (vgl. Gebhard et al., 2021). Entscheidend in diesem Bildungsprozess sind die Subjektivität des Individuums und seine Beziehung zur Welt. Dabei sollten wir nicht vergessen: Bildung ist immer ein ergebnisoffener Prozess, der sich einer eindeutigen Messung von Ursache und Wirkung entzieht (vgl.Nachreiner et al., 2020).
Wichtig ist im Vermittlungsprozess die Rolle von Pädagog*innen, die gute Lernvoraussetzungen ermöglichen, Lernsettings auf die jeweilige Zielgruppe und sozialen Milieus abstimmen und für eine Offenheit der Zugänge sorgen. Gute Bildung beruht auf Freiwilligkeit. Durch die Partizipation der Lernenden kann deren Lernerfolg stark gefördert werden. Aufgabe von Pädagog*innen ist es, Erfahrungsräume für Lernende zu schaffen, in denen sie zu vielfältigen Erkenntnissen gelangen können, und sie zu ermutigen, diese in zukunftsfähiges Handeln umzusetzen. Dieses Bildungsverständnis sowie der pädagogische Ansatz gelten insbesondere für Naturerfahrungslernen im Kontext der BNE.
Erfahrungsräume – Lernen in und mit der Natur
Der Begriff „Naturerfahrung“ wird in der Literatur sowie in der Praxis recht unterschiedlich verwendet. Hier wird er in einem weiten Sinn gebraucht, der eine bewusste, reflexive Auseinandersetzung mit der Natur ebenso impliziert, wie Naturkontakte und Naturbegegnungen. Natur an sich ist ein Erfahrungsraum für Menschen. Natur wird als Gesamtheit im Gegensatz zu Zivilisation, Kultur und Technik gesehen. Der Park um die Ecke kann damit gemeint sein, Kulturlandschaft und alle Dinge und Phänomene, die nicht vom Menschen gemacht sind. Der Begriff Natur ist sehr vielschichtig und beinhaltet eine gewisse Dialektik, da wir einerseits im Prozess des Geborenwerdens, Lebens und Sterbens Teil der Natur sind, ihr aber andererseits agierend und sie nutzend gegenüberstehen. Natur kann bezaubernd schön, aber auch angsteinflößend sein. Dieses ambivalente Verhältnis fließt auch in Naturerfahrungen mit ein. Gebhard macht darauf aufmerksam, dass im Prozess naturpädagogischer Bildungsarbeit die subjektive Beziehung des Individuums zur Natur respektiert werden müsse sowie die Unantastbarkeit der Natur selbst, die sich nicht auf naturwissenschaftliche Konzepte reduzieren lässt (vgl. Gebhard et al., 2021).
Eine neuere Veröffentlichung japanischer Nachhaltigkeitsforscher*innen im Fachblatt „Science Advances“ (vgl. Huynh, 2022) zeigt durch die Auswertung internationaler Studien, wie wichtig Natur für den Menschen ist und dass das subjektive Erfahren von Natur Wohlbefinden und Gesundheit stärkt sowie identitätsstiftend ist. Die japanische Nachhaltigkeitsforscherin Lam Huynh und ihr Team identifizieren 16 Beziehungsmuster („types of connection“), wie das Wahrnehmen von Natur die Lebensqualität der Menschen steigern kann. Dazu gehört z.B., dass Natur identitätsstiftend und gesundheitsfördernd wirkt, zufrieden macht, Generationen verbindet und ein Gefühl von Transzendenz vermittelt. Die Autor*innen beklagen, dass diese immateriellen Werte bei Entscheidungen zum Schutz der Natur selten mit einfließen und auch ihr langfristig wirtschaftlicher Nutzen nicht erkannt werde.
Bildung für nachhaltige Entwicklung basiert auf Wertebildung. In diesem Bereich können Naturerfahrungen eine Basis legen, auf der weiter aufgebaut werden kann. Der Naturpädagoge Joseph Cornell (vgl. Cornell, 2006) war davon überzeugt, dass Naturerfahrungen nicht nur Kinder zu Naturbegeisterung und zu einem sensiblen Naturbewusstsein führen können. Ziel seiner Naturerfahrungsübungen ist, sich als Teil der Natur zu fühlen und ein gesteigertes Mitgefühl für alles Leben zu empfinden. Er entwickelte die Methode des „Flow Learning“, um mit einer Vielzahl von Übungen und entsprechendem Aufbau (Begeisterung wecken, konzentriert wahrnehmen, unmittelbar erfahren, andere an deinen Erfahrungen teilhaben lassen) Naturerfahrungen zu einem überwältigenden und lange andauernden Erlebnis zu machen. Entscheidend ist hier die Reflexion der Naturerlebnisse. Wenn das emotionale Verständnis für den Erhalt der natürlichen Umwelt geweckt wird, kann Naturerfahrung auch dazu beitragen, unser Leben als sinnvoll wahrzunehmen. Eine positiv denkende Persönlichkeit oder eine Verortung in der Natur können auch Anlass zu nachhaltigen Lebensstilen sein.
Lernen aus der Krise, Umgehen mit Dilemmata und Irritation
Die japanische Untersuchung (s.o.) zeigt auch, dass Naturerfahrungen nicht nur positiv sein können. Zumal in Zeiten von Klimawandel und Biodiversitätsverlust kann es zu verstörenden Erfahrungen in und mit der Natur kommen (z.B. Bienensterben, Überschwemmungen etc. und deren erfahrbare Folgen für die Einzelnen). Irritierende Auseinandersetzungen können zum Katalysator von Bildungsprozessen werden, wenn Handlungsroutinen unterbrochen werden oder gewohnte Sichtweisen und Vorstellungen auf Widerspruch stoßen. In der BNE kann gerade durch disruptive Erlebnisse neues, innovatives Denken ausgelöst werden, wenn es pädagogisch begleitet ist, was im Sinne der großen Transformation auch immer notwendiger ist (siehe Roadmap BNE 2030). Wir brauchen neue Wege und Denkansätze, um die Nachhaltigkeitsziele umzusetzen.
Vom Wert von Naturerfahrungen für die BNE
Ein Blick in die empirische Forschung zeigt, dass regelmäßige Naturerfahrungen in der Kindheit meist positive Effekte haben. Ein positives und reflektiertes Erleben von Natur kann die mentale, soziale, physische und psychische Entwicklung von Kindern fördern (vgl. Raith, Lude 2014; Gebhard et al., 2021; Gebhard, 2022). So haben Naturerfahrungen eine eigenständige Berechtigung, da sie, wie in vielen Studien nachgewiesen, sowohl eine positive Entwicklung von Kindern und Jugendlichen fördern und somit zur Persönlichkeitsentwicklung und geistiger Mündigkeit beitragen können, als auch späteres Engagement für Umwelt- und Nachhaltigkeitsthemen begünstigen. Sie stellen einen möglichen Faktor für nachhaltige Verhaltensweisen dar.
Auch neuere Veröffentlichungen zum Thema „Draußenlernen und Bildung für nachhaltige Entwicklung“ (vgl. von Au, Jucker 2022) zeigen, wie vielperspektivisch Zugänge für Kinder und Jugendliche beim Lernen in der Natur sein können. Aus vielen Studienergebnissen wurden von den Autoren neben weiteren wichtigen Kompetenzen für ein zukunftsfähiges Leben sechs übergeordnete Kategorien identifiziert, die zur BNE beitragen: physische und psychische Gesundheit, Naturverbundenheit, Selbst-, Sach- und Sozialkompetenz. Diese sind nicht einzeln, sondern in ihrem vielfältigen Zusammenwirken zu sehen, um die Hindernisse und Herausforderungen nachhaltiger Entwicklung zu meistern.
Darüber hinaus gibt es Belege (vgl. u.a. Huynh, 2022), dass Menschen aller Altersgruppen Natur brauchen, weil sie mit Landschaften und Naturräumen Kindheitserinnerungen, Rituale, Vertrautheit und Gefühle von Zugehörigkeit und Sicherheit verbinden. Damit können Naturerfahrungen identitätsstiftend sein sowie Sinn und Werte bildend wirken. Sie können zu einem moralisch-ethischen Wertekanon beitragen, um unsere Eine Welt nachhaltiger und gerechter zu machen.
Daher das Fazit: Naturerfahrungen können Menschen jeglichen Alters im Sinne der Bildung für nachhaltige Entwicklung stärken. Sie können eine positive Verortung in der Einen Welt sowie Zukunftsvisionen einer gerechten und friedlichen Gesellschaft fördern, Mut machen, Neues auszuprobieren und sich einzumischen. Wesentlich erscheinen hierfür eine reflexive, offene Haltung, das Schaffen von Erfahrungsräumen, Raum für Spontaneität, Intuition und Reflexion. So gestaltet sind ganz unterschiedliche Angebote in und mit der Natur wesentlicher Teil einer zeitgemäßen Bildung für nachhaltige Entwicklung.
Literatur
Cornell, J. (2006): Mit Cornell die Natur erleben. Der Sammelband. Naturerfahrungsspiele für Kinder und Jugendliche. Verlag an der Ruhr, Mülheim
Gebhard, U.; Lude, A.; Möller, A.; Moormann, A. (Hrsg.) (2021): Naturerfahrung und Bildung. Springer Verlag, Wiesbaden
Huynh, L. T. M.; Gasparatos, A., Su, J.; Dam Lam, R.; Grant, E. I.; Fukushi, K. (2022). Linking the nonmaterial dimensions of human-nature relations and human well-being through cultural ecosystem services. Science advances, 8(31): www.science.org/doi/10.1126/sciadv.abn8042 (4.10.22)
Ködelpeter, T.; Kreuzinger, S.; Schlehufer, A. (Hrsg.) (2022): Wandel braucht Bildung. Impulse, Konzepte und Praxis zur Bildung für nachhaltige Entwicklung. oekom Verlag, München
Nachreiner, M.; Laufer, D.; Belakhdar, T.; Koch, U.; & Oeschger, A. (2020). Umweltbildung und Bildung für nachhaltige Entwicklung – zielgruppenorientiert und wirkungsorientiert! Dessau-Roßlau: Umweltbundesamt: www.umweltbundesamt.de/sites/default/files/medien/1410/publikationen/2020-06-29_texte_118-2020_umweltbildung-bne.pdf (3.10.22)
Raith, A.; Lude, A. (2014): Startkapital Natur. Wie Naturerfahrung die kindliche Entwicklung fördert. oekom Verlag, München
Von Aue, J.; Jucker, R. (Hrsg.) (2022): Draußenlernen. Neue Forschungsergebnisse und Praxiseinblicke für eine Bildung für nachhaltige Entwicklung. hep Verlag AG, Bern
Autorinnen und Kontakt:
Steffi Kreuzinger,
Ökoprojekt MobilSpiel e.V.
steffi.kreuzinger@mobilspiel.de
Marion Loewenfeld, Vorstandsmitglied im ANU Bundesverband
marion.loewenfeld@anu.de
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