Theorie & Hintergrund

Alltag als Zielebene

Nachhaltige Entwicklung muss zu einer selbstverständlichen Orientierung in der vorgegebenen Routine alltäglichen Handelns werden. Sie muss eine Leitfunktion in dem ständig wiederkehrenden Pendeln zwischen Traditionen und Modernisierung bekommen, sowohl für Ausbildung und Beruf, für Familie und Freizeit, für das Verständnis der Menschen an Lebensqualität und Sinnfindung. Nachhaltige Entwicklung soll zu einem neuen kategorischen Imperativ für das 21. Jahrhundert werden, der die zeitlichen Dimensionen der Generationen-Gerechtigkeit mit globaler Solidarität und internationalem Ressourcenschutz verbindet. Ein kategorischer Imperativ für das Alltagsleben, verstanden als der „Bereich menschlicher Praxis“, den „der wache und normale Erwachsene in der Einstellung des gesunden Menschenverstandes als schlicht gegeben vorfindet“ (Schütz/Luckmann 1984).

Alltag ist nicht Wissenschaft, ist nicht parzelliert in Fachsystematik, Fachsprache und isolierte Versuchsbedingungen. Alltag ist roh und rau, bitter und süß, lustig und lasterhaft. „Der Alltag ist jener Bereich der Wirklichkeit, in dem uns natürliche und gesellschaftliche Gegebenheiten als die Bedingung unseres Lebens unmittelbar begegnen, als Vorgegebenheiten, mit denen wir fertig zu werden versuchen müssen. Wir müssen in der Lebenswelt des Alltags handeln, wenn wir uns am Leben erhalten wollen. Wir erfahren den Alltag wesensmäßig als den Bereich menschlicher Praxis.“ (Schütz/Luckmann 1984).

Der Alltag wird durch eine Vielzahl von Faktoren bestimmt, die verzahnt sind und sich gegenseitig beeinflussen. Generell unterliegt das Handeln im Alltag den Zweckrationalitäten von Routine und der Angst vor Veränderungen. Dennoch muss Alltag gestaltet werden durch einen aktiven Prozess des Einsatzes von Arbeit, Zeit und Management. Die Situation der Familien bestimmt ihren Umgang mit Produkten und Diensten. Selbst das Konsumieren wird in neueren Studien mit dem Begriff „Konsumarbeit“ belegt. Die Gestaltung des Alltags unterliegt immer stärkeren Regeln und Zeittakt-orientierten Mechanismen von Organisation und Management. Die Phasen von Ruhe und Erholung werden immer kürzer. Damit verbunden nimmt der Trend zu Convenience-Produkten (Tiefkühlkost, Fertiggerichte) und spezifizierten Dienstleistungen (Event-Management, Out-Sourcing im Produktbereich) zu.

Strittig ist die Frage, inwieweit Convenience-Ansprüche wirklich aus Zeitmangel, oder aus Bequemlichkeit und dem Einsatz von Alltagsarbeit herrühren. Die Arbeit von Nachhaltigkeitsinitiativen wird durch diese Trends beeinflusst: Die Mitglieder von Nachhaltigkeitsinitiativen wenden einen erheblichen Arbeits- und Zeitaufwand für ihre ehrenamtlichen Tätigkeiten auf. Es wird schwierig sein, neue Interessenten aus dem gesellschaftlichen Mainstream zu gewinnen, wenn die Mitarbeit mit einem „mehr“ an Aufwand, Arbeit und Zeit verbunden und der Benefit unklar ist.

Zielgruppen erreichen

„Öko“ als Ideologie wird von einer Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt. Besonders die Konsum-Genervten und die jungen Desinteressierten haben eine totale Abwehrhaltung gegenüber dem Umweltthema aufgebaut (Empacher 2001). Öko-Produkte haben ein schlechtes Image, alle Assoziationen zum Umweltthema kommen schlecht an. Sie gelten als „altmodisch“, „ineffektiv“ und „selbst gemacht“ und sind nicht „trendy“ oder „modern“. Wenn heutige Konsum- oder Lebensstilgruppen in großer Breite erreicht werden sollen, müssen die folgenden Aspekte kommuniziert werden:

Was sind Nachhaltigkeitsinitiativen?

Als Nachhaltigkeitsinitiativen werden von Brand kollektive Akteure bezeichnet, die Aktivitäten zur Durchsetzung nachhaltiger Lebensstile praktizieren. Solche Initiativen finden sich auf allen Ebenen des politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Handelns und in allen räumlichen Einheiten. Auf der globalen Ebene kann das eine Initiative einer Gruppe von Ländern sein, die sich im Rahmen von WTO-Verhandlungen um die Verankerung von Nachhaltigkeitsaspekten bemüht. Im regionalen Rahmen agieren viele erfolgreiche Regionalvermarktungsinitiativen und im lokalen Bereich gibt es eine Fülle von Nachhaltigkeitsinitiativen in den unterschiedlichsten Bereichen. Hier befindet sich auch der Aktionsraum von Agenda 21-Initiativen.

In einem ersten Systematisierungsansatz arbeitet Brand aus der Vielfalt der Projektlandschaft Gemeinsamkeiten heraus. Nachhaltigkeitsinitiativen zeichnen sich aus durch

"Neue soziale Bewegungen"

Darüber hinaus verbindet Nachhaltigkeitsinitiativen die Erkenntnis, dass nachhaltiges Handeln nicht von staatlicher Seite erzwungen werden kann, sondern dass es entscheidend darauf ankommt, die Nachhaltigkeitsziele in das Handeln und die Binnenlogik der gesellschaftlichen Akteure zu integrieren. Das Profil von Nachhaltigkeitsinitiativen als neue soziale Kraft bekommt deutliche Konturen, wenn man sie von den eher ökologisch und sozial motivierten Gruppen der Vergangenheit abgrenzt. Brand hebt drei Merkmale dieser Bewegung, für die in den achtziger Jahren der Begriff „Neue Soziale Bewegung“ geprägt wurde, hervor:

Im Unterschied zu den „Neuen Sozialen Bewegungen“ der Vergangenheit müssen die Nach-haltigkeitsinitiativen der neunziger Jahre ihre Themen nicht erst durch Massenmobilisierung und konfrontative Aktionen auf die Tagesordnung setzen. Im Rahmen von Nachhaltigkeitsprozessen geht es nicht um die konfrontative Verhinderung einer bestimmten Entscheidung, sondern um die reformorientierte Entwicklung und Verbreitung neuer institutioneller Praktiken, die sich an dem Leitbild der Nachhaltigkeit orientieren. Es geht um die Frage, wie etablierte Strukturen, Routinen und Alltagspraktiken ohne allzu große Brüche, mit möglichst hoher Akzeptanz umgepolt, wie neue Interessen- und Motivallianzen hergestellt werden können. Es geht auch um die Mobilisierung von institutioneller Phantasie und neuer institutioneller Lösungsmodelle. (Brand 2002b).

Dabei darf nicht der Eindruck entstehen, dass Nachhaltigkeitsinitiativen die Sozialen Bewegungen oder traditionellen Umweltinitiativen verdrängen oder ersetzen. Diese existieren weiterhin, zum Teil mit den gleichen Themenstellungen und Organisationsformen. Der Focus von Nachhaltigkeitsinitiativen liegt auf der Regelung von Alltagspraktiken bei gleichzeitiger Schaffung und Aufrechterhaltung dauerhafter institutioneller Strukturen.

Dynamik von Nachhaltigkeitsinitiativen

Wie kann die Dynamik von Nachhaltigkeitsinitiativen bewertet werden?

Nachhaltigkeitsinitiativen, besonders jene, die sich in Lokale-Agenda-21 Prozessen engagieren, befinden sich oft in der Gefahr, vereinzelte Erfolge ihrer Arbeit zu verabsolutieren und deren Bedeutung falsch einzuschätzen. Oft verfolgen sie keine klare Strategie und sind zufälligen Entwicklungen unterworfen. Manchmal werden sie von Machtkonstellationen mit vordergründigen Belohnungen abgespeist, ohne dass sich substanziell etwas in der Kommunalpolitik ändert. Was nützt die Vorlage eines Aktionsprogramms, wenn es nicht umgesetzt wird in Realpolitik?

Fragen nach Barrieren und nach Fördermöglichkeiten sind für den Erfolg von Nachhaltigkeitsinitiativen von entscheidender Bedeutung. Wie entfalten Nachhaltigkeitsinitiativen Dynamik? Wie breiten sie sich erfolgreich in gesellschaftliche Teilstrukturen aus? Wie überstehen sie schwierige Zeiten und wie überwinden sie Widerstände? Wie reagieren sie auf veränderte gesellschaftliche Bedingungen? Kurzum: Wie hoch ist ihr Dynamikpotenzial, das sie als Akteure gesellschaftlichen Gestaltungswillens tätig werden lässt?

Mit der Einführung des Begriffs „Dynamikpotenzial“ hat econtur ein Kategoriensystem qualitativer Sozialforschung ausgearbeitet, das Aussagen über Barrieren und Fördermöglichkei-ten der Arbeit von Nachhaltigkeitsinitiativen erlaubt. Dieser Begriff beschreibt die qualitative und quantitative Wirkung von Aktivitäten der Nachhaltigkeitsinitiativen innerhalb gesellschaftlicher Veränderungsprozesse, in deren Rahmen die Akteure eine gestaltende Rolle einnehmen. Das Dynamikpotenzial lässt Aussagen darüber zu, ob und wenn ja, welche Rolle Nachhaltigkeitsinitiativen bei der Durchsetzung neuer gesellschaftlicher Leitbilder und bei der Veränderung von Alltagspraxis spielen.

Zu den Kategorien des Begriffs „Dynamikpotenzial“ zählen wir:

Die Kategorien des Dynamikpotenzials stehen nicht isoliert nebeneinander, sondern beeinflussen sich wechselseitig. In den Beschreibungen wurde bereits auf die Verwandtschaft vieler Begriffe hingewiesen. Um es mit einem Bild zu verdeutlichen: Die Kategorien verhalten sich zueinander wie Einzelelemente eines Räderwerks oder Bestandteile eines Ökosystems. Dreht man einer Stellschraube oder beeinflusst man einen Faktor, wirkt sich das auf das Gesamtgefüge aus.

Beispieltabelle zum Dynamikpotential

Word-Dokument zum Download

Einführung in die systemische Organisationsentwicklung

Ein Interview mit Katja Vittinghoff, kv&p Unternehmensberatung hier zum Runterladen