...für das Thema Zeitwohlstand in der Bildungsarbeit

Die Frage, wie Menschen Zeit verbringen, ist die Basis persönlicher Lebensqualität und begründet den ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Zustand der Welt. Für die Wende hin zu einer wirklich nachhaltigen Gesellschaft spielt Zeit deswegen eine entscheidende Rolle.

Ein Fußballspiel dauert 90 Minuten, die Schule beginnt morgens um acht und in den meisten Geschäften können wir bis 20 Uhr einkaufen. Von klein auf begleiten jeden Einzelnen feste und selten hinterfragte Zeitrhythmen. Wenn doch einmal die Frage aufkommt „Warum müssen SchülerInnen um acht Uhr in der Schule sitzen?“, dann lautet die Antwort wahrscheinlich „Weil das so festgelegt wurde“. Viel seltener wird wohl erklärt, dass der frühe Schulbeginn ursprünglich mit der Zeitstruktur arbeitender Eltern zusammenhängt. Und warum müssen Eltern so früh arbeiten? Weil das die ArbeitgeberInnen vorschreiben. Und warum schreiben sie das vor? Weil das alle so machen. Und warum machen das alle so? Weil wir es eben so gewöhnt sind. Jetzt ließe sich problemlos weiterfragen: Warum sind wir es gewöhnt? Weil es alle so machen? Aber spätestens hier fängt die Gedankenkette an, sich im Kreis zu drehen.

Zeit für Nachhaltigkeit
In der Perspektive von Zeitwohlstand werden Menschen weniger Lohnarbeit verrichten, dafür mehr Zeit für soziale Kontakte haben. Sie werden mehr Zeit haben, sich Fähigkeiten anzueignen. Mehr selbst herstellen, mehr  reparieren und mehr die schönen Dinge im Leben genießen. Aus diesen Gründen braucht das Thema Zeit einen festen Platz in der Bildungsarbeit mit jungen Menschen. Es reicht nicht, sich auf dem Weg in eine sozial-ökologische Gesellschaft nur damit zu beschäftigen, wie jeder dazu gebracht werden kann, ethisch und ökologisch korrekter zu konsumieren. Das ist wichtig und dazu gibt es eine Menge sehr guter Bildungsarbeit. Aber grundsätzlich gilt es noch ganz andere Selbstverständlichkeiten alltäglicher Lebensweisen zu hinterfragen.

Deshalb zurück zu der schwierigen Frage, warum Menschen Zeit so verbringen, wie „man“ das eben macht und warum das so schwer zu ändern ist. Harald Welzers, Sozialpsychologe und Direktor der gemeinnützigen Stiftung Futurzwei, hat darauf eine Antwort: Alle haben von außen gesetzte Normen und Strukturen verinnerlicht und sind folglich deshalb nun selbst davon überzeugt, dass diese so und nicht anders zu sein haben. Äußere Zwänge werden zu Selbstzwängen, zu „mentalen Infrastrukturen“.
In Bezug auf den Umgang mit Zeit heißt das: Mittlerweile ist es zur Gewohnheit geworden, dass das Motto „mehr = besser“ nicht nur für die Wirtschaft, sondern eigentlich für alle Lebensbereiche gilt. Gleichzeitig ist die Gestaltung des Lebens immer freier geworden. In Kombination daraus ergibt sich, dass sich viele Menschen zunehmend selbst unter Druck setzen, „das Beste“ aus ihrem Leben, aus ihrer Jugend, aus jedem freien Nachmittag machen zu „müssen“.


Bildungszeit
Das geht auch zunehmend mehr Jugendlichen so. Deshalb braucht es Bildungsarbeit, die sie darin unterstützt, scheinbar selbstverständliche Zeitstrukturen und den allgegenwärtigen Zeitdruck zu hinterfragen. Das Konzeptwerk Neue Ökonomie diskutiert zum Beispiel mit Jugendlichen in Workshops zu einer Ökonomie jenseits von Wachstumszwängen, welche Rolle Zeit für sie persönlich spielt und wie sie sich ihre Zeitgestaltung idealerweise vorstellen. Welche Bedeutung hat dabei „Arbeit“? Und welche Rolle spielt Zeit für unsere Wirtschaft?
Anschließend setzen sich die Jugendlichen mit ganz konkreten alternativen Zeitstrukturen auseinander. Sie lernen zum Beispiel die „kurze Vollzeit“ kennen, bei der alle nur 20 statt 40 Stunden in der Woche arbeiten. Besonders spannend kann es werden, wenn sich die jungen Leute im Kontext von Bildungsarbeit mit Menschen unterhalten können, die selbst mit anderen Zeitstrukturen leben. Wie sind sie dazu gekommen? Warum machen sie das eigentlich? Und wie fühlt sich das an, etwas anders zu machen als der große Rest?

Wege aus der mentalen Einbahnstraße
Sicher, der Weg vom Reden zum Handeln ist schwer. Gerade, weil sich mentale Infrastrukturen nicht von heute auf morgen ändern lassen, hält etwa Harald Welzer selbst auch  Aufklärung allein für keinen ausreichenden Weg, Veränderungen zu anzustoßen. Vielversprechend können für die Bildungsarbeit greifbare Beispiele sein, mit denen Jugendliche direkt erleben können, wie es auf dem Weg in eine sozial-ökologische Gesellschaft auch anders gehen kann.

Und vielleicht lassen sich hieraus letzten Endes sogar Bildungsformate entwickeln, die selbst anders mit Zeit umgehen: Wie wäre es mit einem 20- statt 40- Stunden-Freiwilligendienst à la FSJ, bei dem auch noch Zeit bleibt zum Musik machen, Freunde treffen, Fahrrad reparieren und zum politischen Engagement?


Nadine Kaufmann,
Bildungsreferentin beim
Konzeptwerk Neue Ökonomie


www.konzeptwerk-neue-oekonomie.org