Philosophie - Die Umwelt als Konstrukt

Es gibt wohl nur wenige UmweltpädagogInnen, die den Zustand der Natur oder unserer Umwelt nicht in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellen. Als beliebte Methoden werden entdeckendes Lernen der Natur, Naturerlebnisspiele oder Umweltmonitoring eingesetzt. "Natur" wird dabei meistens als Inbegriff des Ursprünglichen, Intakten, im Gleichgewicht Befindlichen und zu Bewahrenden angesehen, das von menschlicher Aktivität zunehmend bedroht ist. Ein neuer Denkansatz bringt dieses Weltbild nun ins Wanken: der "Konstruktivismus".

Der Zoologe und Evolutionsbiologie Josef H. Reichholf bezeichnet die Idee des "natürlichen Gleichgewichts" als menschliche Wunschvorstellung, die möglicherweise mit dem menschlichen Bedürfnis nach körperlichem und geistigem Gleichgewicht zusammenhänge, aber nicht mit der Entwicklungsgeschichte des Lebens. Grundfalsch sei die Vorstellung vom Gleichgewicht in der Natur, wo alles seine Ordnung und Richtigkeit habe. Nicht das Verharren in der Unbeweglichkeit von "natürlichen Gleichgewichten" kennzeichne das Leben auf der Erde, sondern Veränderung und Evolution.
Ein aktuelles Beispiel für ein solches Gleichgewichtsdenken liefert dem konstruktivistischen Ansatz zufolge die Diskussion über den Klimawandel. Auch hier sind demnach menschliche Grundmotive wie zum Beispiel die Angst vor der Veränderung im Spiel. Eine klimatische Stabilität hat es tatsächlich nie gegeben. Während die mittelalterliche Warmzeit von Kälte- und Nässejahren unterbrochen war, gab es in der kleinen Eiszeit sehr warme und günstige Jahre. Es wäre also absurd, davon auszugehen, Wetter und Klima müssten von Natur aus stabil sein oder sollten immer so bleiben wie jetzt.

Menschliche Konstruktionen

Der Begriff "Ökosystem" ist dem neuen Ansatz nach eine vom Menschen konstruierte Denkhilfe. Nicht die Natur gibt die Größe eines Ökosystems vor, sondern die Grenzen zieht die Forschung. Ökosysteme sind keine Funktionseinheiten der Natur. Reichholf folgert daraus, dass es keinen Sinn ergibt, vom Zusammenbruch von Ökosystemen, von ihrer Gefährdung oder Belastung zu sprechen, können doch diese offenen Systeme eine Vielzahl höchst unterschiedlicher, ineinander übergehender Zustände einnehmen. Von der Feststellung, dass es Ökosysteme eigentlich nicht gibt, ist der logische Weg nicht weit zu der Behauptung, dass es auch die Natur insgesamt eigentlich nicht geben kann. Ist auch die Natur nur ein menschliches Konstrukt?
Sind dann ausgerechnet diejenigen, die als Anwälte der Natur auftreten, einem sinnlosen konservativen Bewahrungsdenken verpflichtet? Der "Natur"-Begriff, mit dem viele UmweltpädagogInnen arbeiten, legt diesen Schluss auf jeden Fall sehr nahe. Kein Wunder also, dass der "Konstruktivismus" bei ihnen auf so viel Ablehnung stößt. Die Idee, dass die Welt als zusammenhängendes Ganzes nur in unseren Köpfen existiert, scheint Ökologen und Umweltlehrern die Arbeitsgrundlage zu entziehen. Es gebe keine "objektive" Erkenntnis. "Ökosysteme", die "Artenvielfalt", die "Klimakata-strophe" und das "Waldsterben" seien alles menschliche Konstrukte mit einer begrenzten Haltbarkeit.

Konstruktivismus lernen

Verschiedene AkteurInnen haben nun begonnen, UmweltpädagogInnen auf die Problematik einer allzu "realistischen" Weltsicht hinzuweisen. So bietet TuWas Bayern zum Beispiel Lehrgänge an, die Wahrnehmungsexperimente und Kommunikationsübungen, aber auch erkenntnistheoretische und philosophische Diskussionen ermöglichen. Dabei werden Experimente zu den Unterschieden zwischen Menschen durchgeführt, Kritik am Natur- und Umweltbegriff geübt sowie eine Reflexion der eigenen ökopädagogischen Praxis vorgenommen.
Die Konsequenz, die sich für den Mathematiker, Physiker und Biologen Ernst Peter Fischer aus diesen Gedanken ableitet, ergibt einen für Umweltpädagogen herausfordernden Begriff von der Natur: "Die Natur ist nicht mehr Mutter oder Gebieterin, sondern das Gegenstück zu meinem Tun und Denken. Natur ist etwas, dem ich meinen Willen aufzwingen kann. Sie ist der Gegenstand, den ich formen, dem ich Form verleihen kann." Diese Formulierungen dürfen aber nicht so interpretiert werden, als gehe es um die oftmals beklagte, folgenschwere Unterjochung der Natur für menschliche Zwecke. Der Erkenntnistheoretiker und Wissenschaftssoziologe Bruno Latour erläutert an Beispielen wie der Entdeckung der Milchsäurebakterien durch Louis Pasteur, dass menschliche Wissenschaft und nichtmenschliche Natur in einem geschichtlichen Verhältnis zueinander stehen, denn vor Pasteur "existierten die Mikroben eigentlich gar nicht".

<i>Richard Häusler und Jürgen Forkel-Schubert</i>

Kontakt: Richard Häusler, Bundesverband TuWas e.V., Waltherstr. 29, D-80337 München, Fon ++49/(0)89/59946770, Fax 54418449, E-Mail infotuwasnet, www.tuwas.net

Fischer E.P.: Die andere Bildung. Was man von den Naturwissenschaften wissen sollte. Ullstein, München 2002, 464 S., 24 EUR, ISBN 3-550-07151-5

Latour B.: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft. Suhrkamp, Frankfurt/Main 2002, 386 S., 28,80 EUR, ISBN 3-518-58296-8