Erlebnispädagogik - Visionen in der Wildnis

Im Sommer dieses Jahres trafen sich die HauptschülerInnen der Montessorischule bei Mühldorf zu einer Abschlussfeier der besonderen Art: Die AbsolventInnen der neunten Klasse hatten sich entschieden, den Übergang von der Schulzeit in das Berufsleben wie unsere Vorfahren mit einem Initiationsritual zu begehen. Für 24 Stunden gingen die Jugendlichen allein und fastend in die Felder und Wälder, um den Übergang zum Erwachsensein zu markieren.

Solche Rituale sind kein Einzelfall: Immer mehr Menschen entscheiden sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts, alte Initiationsrituale wiederzubeleben. Sie gehen für ein bis vier Tage allein in die Natur um Übergänge zu gestalten, Lebenskrisen zu bewältigen oder um sich in der Wildnis als ein Teil der Natur zu erfahren.
In allen Kulturen der Welt ist zu allen Zeiten der Übergang vom Jugendlichen zum Erwachsenen von zahlreichen Ritualen geprägt gewesen. Mit deren Hilfe sollten junge Menschen befähigt werden, die grundlegenden körperlichen, psychologischen und sozialen Veränderungen ihres Reifungsprozesses zu bewältigen. Im Rahmen dieser Initiationsrituale wurde ihnen vermittelt, welche Rolle und Verantwortungen sie als Frau oder Mann, in Familie, sozialer Gruppe, Kultur und Glaubenssystem einzunehmen hatten. Soziale Verantwortung wurde nur an die weitergegeben, die sich den entsprechenden Prüfungen unterzogen hatten. In unserer modernen Kultur sind Initiationen, die diese Aufgabe erfüllen, fast völlig verschwunden. Zwar werden Jugendliche mit "Reifeprüfungen" in die Leistungsgesellschaft initiiert oder mit Führerscheinprüfungen in die mobile Gesellschaft. Was es aber für die Jugendlichen in der Phase des Erwachsenwerdens nicht mehr gibt, ist die Unterstützung der Ältesten. Die gesellschaftlichen Konsequenzen dieses Mangels sind allgegenwärtig: Jugendliche verlieren die Orientierung und erkennen kaum einen Sinn im Leben.

Uraltes Ritual neu entdeckt

Aus der modernen Erlebnispädagogik ist bekannt, dass Jugendliche (oder Erwachsene) in krisenhaften Übergängen in ihrem Leben Grenzerfahrungen suchen. ÖkopädagogInnen wissen seit langem, dass der direkte Kontakt mit der wilden Natur nicht nur tiefgehende Lernerfahrungen auslöst, sondern auch das ganze Weltbild verändern und zur Persönlichkeitsentwicklung beitragen kann. In den letzten 30 Jahren wurde die alte Praxis der Visionssuche im Rahmen der ökopsychologischen Forschung wiederentdeckt. Die allermeisten dieser Rituale bestanden darin, den oder die InitiantIn aus der vertrauten Gemeinschaft herauszunehmen und in der Wildnis sich selbst und dem "größeren Ganzen" zu überlassen. Märchen und Mythen aus aller Welt beschreiben diesen Prozess der Loslösung, der Konfrontation mit dem Unbekannten, der Transformation und Rückkehr des neugeborenen Helden gleichermaßen. Lange vor Sigmund Freud besaßen die traditionellen Kulturen damit eine komplexe archaische Psychologie, die Menschen half und Kulturen nachhaltig machte.

Sich als Teil des Ökosystems erleben

Wer sich heute alleine in die freie Natur zurückzieht, erlebt weitgehend das Gleiche, wie unsere Vorfahren. "Die Schicht zwischen Wildnis und Zivilisation", sagt der amerikanische Ökopsychologe Robert Greenway, "ist nicht dicker als ein paar Tage". Allein mit den Steinen, Wurzeln, Bäumen, dem Wetter fast ungeschützt ausgesetzt, ohne Radio, Handy und Bücher, beginnen die Menschen, sich in der Natur selbst zu entdecken. Der Gang in die äußere Wildnis wird zur Reise in die Wildnis des eigenen Herzens, den Dschungel der Wünsche, die Wüste der Ängste und Zweifel.
Die Heilung, die eine Visionssuche nach Ansicht ihrer Protagonisten bietet, liegt darin, sich auf einer körperlichen, psychologischen und spirituellen Ebene wieder als Teil des Ökosystems und der Biosphäre erleben zu können. Wenn die Trennung zwischen Mensch und Natur nur einmal aufgehoben wurde, verändert sich das Weltbild. Die Wiederanbindung an die Mitwelt kann zu einem Sprung auf eine andere Ebene werden, die Welt wahrzunehmen und sich neu im Netz des Lebens zu verorten. Das kann durchaus auch einen tiefen sozialpädagogischen und politischen Aspekt haben: Wer sich selbst in so einer existenziellen Form als Teil der Erde und die Erde als Teil seiner selbst erlebt hat, wer die tiefsitzende Angst vor der Wildnis in Liebe zu ihr verwandelt hat und die Chance hatte, seine eigene innere Vielfalt in der Vielfalt der lebendigen Natur zu entdecken, der wird sich auch für eine ökologisch nachhaltige Gesellschaft engagieren - nicht nur aus ökologischen Gründen, sondern aufgrund seiner unmittelbaren Erfahrung.

Geseko von Lüpke

Geseko von Lüpke/Sylvia Koch-Weser "Vision Quest. Visionssuche: Allein in der Wildnis auf dem Weg zu sich selbst", Ariston Verlag, Kreuzlingen/München 2000, 325 Seiten, 36 Mark, ISBN 3-7205-2164-8